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Ziele und sozialpolitische Bedeutung der Studie
Die Dienstleistungsarbeit in den deutschen Krankenhäusern
beeinflusst direkt und oft irreversibel Leben und Gesundheit von
jährlich über 16 Millionen Patienten, einem Fünftel der Bevölkerung.
Das Krankenhaus ist zu einem wichtigen Bestandteil der Lebenswelt
der Bürgerinnen und Bürger geworden. Die meisten Bürger werden im
Krankenhaus geboren und ein großl;er Teil von ihnen stirbt im
Krankenhaus. Die Zuverlässigkeit des Krankenhauses ist Grundlage
ihres Vertrauens, im Bedarfsfall schnellen und chancengleichen
Zugang zu einer wirksamen Krankenhausbehandlung zu haben. Dieses
Vertrauen hat den Charakter eines öffentlichen Gutes und ist ein
wesentlicher Bestandteil des Lebensstandards auch derjenigen
Menschen, die das Krankenhaus de facto nicht in Anspruch nehmen.
Die deutschen Krankenhäuser wiederum stehen in einem Prozess
tief greifender Veränderungen. Die bevorstehende Umstellung der
gesamten Krankenhausfinanzierung auf ein diagnosebezogenes
Fallpauschalensystem (Diagnosis-Related Groups = DRGs) gilt als das
folgenreichste einzelne Reformelement in der Gesundheitspolitik der
letzten Jahrzehnte. Alle Leistungen des Krankenhauses (Ausnahme
Psychiatrie) sollen einheitlich definiert, pauschaliert und vergütet
werden. Das Reformziel besteht darin, die Krankenhäuser verstärkt zu
wirtschaftlichem Verhalten zu motivieren, eine effizientere
Krankenhausversorgung zu erreichen, überflüssige Leistungen zu
reduzieren, die Verweildauer (weiter) zu senken und Kapazitäten
abzubauen ohne die Qualität der Versorgung zu verschlechtern. Der
Umstellungsprozess wird als äußl;erst komplex und in seinen
Auswirkungen unvorhersehbar angesehen. Offen ist nicht nur,
inwieweit die positiven Reformziele einschließl;lich der damit
einhergehenden Gestaltungschancen realisiert werden können, sondern
auch, ob und in welchem Umfang nicht intendierte unerwünschte
Effekte auftreten und wie ihnen begegnet werden kann.
Vor diesem Hintergrund zielt das Projekt darauf, sowohl die
Entwicklungschancen des Umstellungsprozesses auf das DRG-System als
auch die nicht intendierten Versorgungsrisiken zu identifizieren.
Die Implementierung des Fallpauschalengesetzes erfolgt über mehrere
Jahre und mehrere inhaltliche Stufen, die durch das Projekt
begleitet werden sollen.
sozialwissenschaftlicher Ansatz
Der
inhaltliche und forschungsökonomische 'archimedische Punkt', an dem
wir ansetzen ist der medizinische und pflegerische
Dienstleistungsprozess bzw. die Krankenhausarbeit. Medizinische und
pflegerische Dienstleistungen sind dadurch gekennzeichnet, dass
Produktionstätigkeit und Konsumtion zugleich in einem Prozess ('uno
actu') erfolgen. Um sowohl die Patienten- als auch die
Organisationsperspektive erfassen und zueinander in Beziehung setzen
zu können, wird das Krankenhaus als ein soziales System betrachtet,
das durch die Produktion medizinischer und pflegerischer
Dienstleistungen strukturiert wird. Nach unserem Verständnis sind
die Patienten darin keine jenseits der Produktion stehenden Abnehmer
bzw. Konsumenten, sondern Bestandteil dieses Produktionsprozesses
selbst. In den medizinischen und pflegerischen Arbeitsprozessen
spielen sie eine Doppelrolle als 'Arbeitsgegenstand' und
'Mitproduzent'. Als Arbeitsgegenstand (am deutlichsten ausgedrückt
durch die Lage auf dem Operationstisch im narkotisierten Zustand)
sind sie Objekte, während sie überall dort, wo es auf ihre
Motivation und ihr Verhalten ankommt und sie ihr
Selbstbestimmungsrecht ausüben (können), auch Subjekte und
Mitproduzenten im medizinisch-pflegerischen Arbeitsprozess sind.
Nahezu jeder Aspekt des Wandels dieser Arbeitsprozesse bzw. der
Krankenhausorganisation beeinflusst ihre Lage und damit die Qualität
der Versorgung.
Erhebungsdesign
Zur
Untersuchung der Folgen der DRG-Einführung wurde ein
mehrdimensionales Längsschnittdesign entwickelt:
-
Aufgrund der
zentralen Bedeutung der Krankenhausdienstleistung als Arbeits-
und Interaktionsprozess mit dem Patienten wurden zwei in sich
selbständige, aber inhaltlich, zeitlich und methodisch
aufeinander abgestimmte Projekte konzipiert, die jeweils auf
unterschiedliche Dimensionen des Dienstleistungsprozesses
zielen. Bei den Projekten, die parallel durchgeführt werden,
handelt es sich um eine ärzte- bzw. Pflegekrafterhebung, die von
der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wird, und eine
Patientenerhebung, die als Eigenprojekt von ZeS und WZB
durchgeführt wird. Die Ergebnisse der Projekte sollen
systematisch aufeinander rückbezogen werden, um so die
Untersuchung der medizinischen und pflegerischen
Dienstleistungsarbeit sowohl zu erweitern als auch zu
kontrollieren.
-
Die
Veränderungen, die die Einführung des DRG-Systems für den
Dienstleistungsprozess und die Versorgungsqualität hat, können
nur dann angemessen erfasst und bewertet werden, wenn die
Ausgangslage bekannt ist. Die erste Erhebungswelle fand deshalb
- aus Eigenmitteln von ZeS und WZB finanziert – vor bzw. kurz
nach der zunächst freiwilligen Umstellung auf DRG statt. Die
beiden nächsten Wellen sollen die Veränderungen während der
Konvergenzphase und am Ende der Umstellung auf DRG abbilden.
Das von der Hans-Böckler-Stiftung
geförderte Projekt legt den Schwerpunkt der Erhebung und Analyse auf
die Versorgung aus der Arbeits- und Beschäftigtenperspektive. Das
umfasst die beiden Variablen "Arbeit" und "Interaktion" (s.
Abbildung). Im Zentrum der Erhebungen stehen das pflegende und
ärztliche Personal. Kern der Untersuchung sind in drei Wellen
wiederholt durchgeführte Befragungen zur Arbeit und
Versorgungsqualität aus der Sicht der ärzte und Pflegekräfte.
Ergänzt werden diese Erhebungen durch empirische Fallstudien in
ausgewählten deutschen Krankenhäusern sowie durch die Beteiligung
von Fokusgruppen aus Patienten, Pflegekräften und ärzten.
Das zweite,
parallel begonnene Eigenprojekt untersucht ebenfalls die
Interaktionsbeziehungen, im Zentrum stehen dabei aber die
Erfahrungen der Patienten und die Variable "Interaktion"
aus der Patientenperspektive. Empirische Grundlagen des
Eigenprojekts sind wiederholte schriftlich standardisierte
Befragungen von ca. 6.000 Versicherten der bundesweit vertretenen
Gmünder Ersatzkasse (GEK), die vor nicht länger als zweieinhalb
Monaten aus einer Krankenhausbehandlung entlassen wurden. Hinzu
kommen Auswertungen von Routinedaten dieser Krankenkasse.
Abbildung:
Variablenstruktur des Gesamtprojekts
Vorarbeiten
Für alle drei Untersuchungsfelder sind Fragebögen entwickelt
und mehrfach in Fokusgruppen und Probeerhebungen getestet worden.
Die ersten Patienten- und Pflegekraftbefragungen wurden 2003
durchgeführt. Die erste ärztebefragung wurde Anfang 2004 durchgeführt.
Ergebnisse - Kurzform
Bei den im Folgenden und insbesondere im Teil über die Mikroebene
vorgestellten empirischen Ergebnissen des Projekts "Wandel von Medizin und
Pflege im DRG-System" (WAMP) handelt es sich um Ergebnisse der Untersuchung
einer Reihe von Hypothesen, die vor allem die politisch und wissenschaftlich
kommunizierten Risiken und Chancen der DRG-Einführung vor und zu Beginn des Einführungsprozesses
aufgreifen und außl;erdem Erkenntnisse früherer, zum Teil eigener Forschung berücksichtigen.
Es handelt sich also nicht um Antworten auf willkürlich oder pragmatisch
ausgewählte inhaltliche Aspekte der Veränderungen im Krankenhausbereich.
Ebenso wenig handelt es sich um Ergebnisse des Versuchs, eine elaborierte
Theorie zu den Struktur- und Handlungsbedingungen des sozialen Systems
Krankenhaus zu verifizieren oder zu falsifizieren.
In einigen Ländern existieren prospektive Krankenhaus-Finanzierungssysteme,
wie z. B. DRG-Fallpauschalen, schon länger als in Deutschland. Nach den
Erfahrungen aus diesen Ländern haben DRGs insbesondere Auswirkungen auf
die Kriterien der stationären Behandlungsnotwendigkeit, die Verweildauer
im Krankenhaus und die Schnittstellen zur nachstationären Versorgung, die
Versorgung älterer und multimorbider Patienten sowie die Arbeitsbedingungen
der Pflegenden. Insgesamt gesehen sind die nachweisbaren Folgen für die Versorgungsqualität
jedoch weniger eindeutig als erwartet. Vor allem in jüngster Zeit gibt es allerdings
Hinweise darauf, dass Personalabbau in der Pflege zu einer Verschlechterung der
Versorgungsqualität führt (z. B. erhöhte Mortalitätsraten). Unklar ist, ob und wieweit die
Erfahrungen anderer Länder mit unterschiedlichen Gesundheitssystemen, unterschiedlichen
Versorgungsansprüchen (Grundversorgung versus Vollversorgung) und unterschiedlichen
Deckungsgraden (Teilfinanzierung durch Fallpauschalen versus Vollfinanzierung) auf
Deutschland übertragen werden können. Ihre Ergebnisse werden in diesem Projekt
gleichwohl genutzt, um vorhandene Hypothesen zu unterstreichen oder zusätzliche zu generieren.
Die DRG-Folgenforschung in Deutschland ist trotz eines eindeutigen gesetzlichen Auftrags
bisher nur in Ansätzen vorhanden. Die öffentlichen Qualitätsberichte behandeln vorrangig
Struktur- und Prozessqualität, jedoch kaum die Ergebnisqualität. Es gibt bislang keine
repräsentativen quantitativen und qualitativen Längsschnittstudien, die Veränderungen
von Arbeitsbedingungen und Versorgungsqualität während der DRG-Einführung messen und
dabei alle Gruppen im Krankenhaus zugleich in den Blick nehmen. Mit Ausnahme der
REDIA-Studie, die sich mit den Folgen der DRG-Einführung für die Rehabilitation
beschäftigt, ermöglicht keine der vorliegenden Studien einen Vorher-Nachher-Vergleich,
da entsprechende Vergleichsdaten vor Einführung der DRG nicht erhoben wurden. Insoweit
lässt sich anhand der vorliegenden Studien nicht abschätzen, welche Folgen die DRG-Einführung
für die Patientenversorgung und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten hat. Eine integrative
Betrachtung aller am Dienstleistungsprozess im Krankenhaus beteiligten Gruppen ist soweit ersichtlich
bisher in keinem Land vorgelegt worden.
Ergebnisse und Erkenntnisse auf der Makroebene: Grundzüge der Gesundheitspolitik der letzten 30 Jahre
Obwohl sich im SGB V weiterhin ein umfassender Versorgungsanspruch der Versicherten
findet, ergänzt durch die Forderung nach Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots, ist die
Tatsache auffällig, dass fast jedes der vielen Reformgesetze seit 1977 eigentlich nur ein
Ziel hatte: Es ging darum, mit unterschiedlichen Instrumenten, unter Förderung oder
Schwächung anderer Strukturprinzipien der GKV, das Wirtschaftlichkeitsgebot in einer
spezifischen Interpretation, nämlich als Gebot zur Wahrung der Beitragssatzstabilität zu stärken.
Die Hauptwirkungsrichtungen der gesundheitspolitischen Reformgesetze lassen sich demnach
als starke Aufwertung des Wirtschaftlichkeitsgebots, unter formaler Stärkung des durch
Zentralisierung und weitgehenden Wegfall einer aktiven demokratischen Legitimation durch
Wahlen geprägten Selbstverwaltungsprinzips und der Eigenverantwortung bei gleichzeitiger
Abwertung des Sachleistungsprinzips, des Solidarprinzips sowie des Bedarfsprinzips darstellen.
Von den Veränderungen auf der Makroebene der Politik lässt sich also vor allem eine
direkte oder indirekte Thematisierung von Konflikten zwischen Versorgungsgebot und
Wirtschaftlichkeitsgebot bei den Akteuren auf der Mikroebene der Implementation (Krankenhaus) erwarten.
Ergebnisse und Erkenntnisse auf der Mikroebene
Eine Reihe der seit Beginn dieses Jahrzehnts befürchteten oder erhofften Veränderungen im
Krankenhaus haben bereits vor der praktischen Implementation und damit Einwirkungsmöglichkeit der DRG
begonnen. Offensichtlich bewirken auch andere Rahmenbedingungen und Interventionen als die DRG (z. B.
die seit Beginn der 1990er Jahre gültige Budgetierung) Veränderungen, die man auch von den DRG erwarten
könnte oder es handelt sich um einen Ankündigungseffekt der DRG, der manche Akteure veranlasste, sich
frühzeitig "gut aufzustellen".
Sowohl was die von den DRG befürchteten negativen Auswirkungen (z. B. "blutige Entlassungen") als auch
die erhofften Veränderungen des Versorgungsprozesses angeht, sieht die Wirklichkeit nach mehreren Jahren
DRG-Alltag in vielen Punkten völlig anders aus. Weder sind negative Veränderungen in der erwarteten Breite
und Intensität bisher empirisch nachweisbar noch haben sich selbst bei hochplausiblem Eigeninteresse der
Krankenhäuser Verbesserungen bei der Strukturierung der Behandlungsabläufe unter besonderer Berücksichtigung
der Aufnahme und Entlassung von Patienten flächendeckend durchgesetzt. Trotz verstärkter finanzieller Anreize
Versorgungspfade zu optimieren, durch in der Konvergenzphase zunehmende Budgetrestriktionen, sind z. T.
gegenläufige Entwicklungen zu beobachten (z. B. Verschlechterungen der Kooperation mit nachstationären
Versorgungeinrichtungen).
Die Gründe für diese aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht schlagartig mit den 2009 endgültig "scharfgestellten"
DRG verschwindende Nicht- oder Fehlwirkung der DRG sind vielfältiger Natur: Ein wesentlicher Grund könnte sein, dass
es genug Akteure gibt, die sich im Zeichen der makropolitisch nach wie vor existierenden Ambivalenz zwischen
bedarfsgerechter Versorgung und Wirtschaftlichkeitsgebot für erstere entscheiden und dafür auch noch genügend
Freiheitsgrade haben. Ein zweiter Grund könnten die momentane Weiterexistenz und -wirkung von fachlichen oder
hierarchischen Strukturen und Prinzipien des Krankenhauses (z. B. Chefarztprinzip) sein, die auch gegen den
gegenwärtigen wirtschaftlichen Druck stärker wirken. Ein weiterer Grund ist die Zähigkeit der Auflösung der
von uns identifizierten Dissonanz von ethischen und professionellen Handlungsnormen und Wirtschaftlichkeit
zugunsten letzterer.
Ein Teil der "überraschenden" Befunde über die überhaupt noch nicht oder nur partiell
eingetretenen aber erwarteten DRG-Auswirkungen mag aber auch dem Charakter des Projektes als
Politikfolgenforschungsprojekt geschuldet sein. Bei aller kritischen Distanz gegenüber politischen
Interventionen traut man ihnen mehr und schnellere Wirksamkeit zu, als sie eigentlich erreichen können.
Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden die Befürchtungen und Erwartungen, die mit der DRG-Einführung
verbunden wurden, genannt und mit den empirischen Ergebnissen des Projekts konfrontiert.
1. "Die DRG bilden die wirkliche Morbidität unzureichend ab".
Die Furcht, dass es mit den DRG nicht gelingt, die Fülle der stationären Morbidität
zu erfassen und in ihrer Komplexität abzubilden und zu vergüten, ist nach Auffassung der
beteiligten Akteure weitgehend unberechtigt. Die Anzahl der DRG betrug 2008 1.137 und hatte
sich damit gegenüber 2007 immerhin nochmal um 55 vergrößl;ert. Verbesserungen gab es auch in
Bereichen mit extrem komplexen und schwer zu kalkulierenden Leistungen wie z. B. der Geriatrie
oder Pädiatrie. Damit liegt die Anzahl der DRG des deutschen "Vollversorgungssystems" erheblich
über der Anzahl der DRG im US-Versicherungssystem Medicare mit seinen 499 "Health Care Financing
Administration"-DRG und über den 661 A-DRG. Der R²-Wert als Maßl; für die Varianzreduktion bzw. die
statistische Güte der Klassifikation belief sich 2008 auf 0,7209, gegenüber dem 2007er-Wert von 0,7158.
2. "DRG führen vermehrt zu "blutigen Entlassungen" und Selektionsverhalten"
Insgesamt gibt es nur wenige, geringfügige oder jedenfalls noch nicht eindeutige Belege für eine
starke Zunahme vorzeitiger Entlassungen und Patientenselektion.
Der Anteil der Patienten, die beim Versuch, einen Platz in einem Krankenhaus zu erhalten, abgewiesen
wurden oder von "Tür-zu-Tür" verwiesen wurden, blieb gleich. Der Anteil der Patienten, die meinten,
ihr Aufenthalt hätte etwas länger sein können, blieb ebenfalls gleich.
Der Anteil der ärzte, die der Auffassung waren, Patienten würden durchgängig oder häufig zu früh entlassen,
stieg von 24 % (2004) auf 26 % (2005), um dann auf 23% (2007) erneut abzusinken. Demgegenüber hat aus Sicht
der Pflegekräfte sowohl die zu frühe als auch die zu späte Entlassung zugenommen, d. h. immer weniger Patienten
würden zu einem für den Heilungsprozess optimalen Zeitpunkt entlassen.
Es gibt Hinweise aus der REDIA-Studie, dass die Erkrankungsschwere bei orthopädischen und kardiologischen
Indikationen in der Rehabilitation 2005/2006 gegenüber 2003/2004 zugenommen hat.
Bei allen Wahrnehmungen und Ergebnissen gibt es wegen der nicht vorhandenen Vergleichsdaten von vor 10 oder
15 Jahren, also weit außl;erhalb der möglichen Ankündigungswirkung der DRG, erhebliche Bewertungsprobleme.
3. "DRGs führen zu einer Verschlechterung der Versorgungsqualität komplizierter, chronisch kranker Patienten"
Zu den DRG-"Versorgungsqualitäts-Verlieren" scheinen mit einer gewissen Plausibilität die Patienten mit mehreren
Behandlungsanlässen (multimorbide Patienten) zu gehören: Zu dieser Gruppe gehören 5% (2002) und 4% (2005) aller befragten Patienten.
Diesen Patienten geht es bei einer Fülle von Indikatoren der Versorgungsqualität (z. B. Information über Vorerkrankungen und Behandlung,
Behandlung mit Aufmerksamkeit, vorbildliche Betreuung, Vertrauen in Krankenhaus und Personal) im Jahr 2005 gegenüber 2002 häufiger
schlechter als Patienten mit nur einer Erkrankung. Verschlechterungen fallen 2005 bei multimorbiden Patienten auch intensiver aus
als bei Befragten mit nur einer Erkrankung.
4. "DRG verstärken die Auswirkungen von Kostendruck auf die Behandlungswirklichkeit"
Der Anteil der Pflegekräfte, die für ihren Alltag der Feststellung zustimmen, die Patienten würden mit den besten Leistungen versorgt,
liegt 2006 bei 63 %. Der Anteil der Pflegekräfte, in deren Alltag sich die Versorgung nicht nach den Kosten richtet, liegt im selben
Jahr bei 55 %. Im Jahr 2003 gaben 87 % und 96 % die Versorgung mit den besten Leistungen und eine Versorgung, die sich nicht primär
nach den Kosten richtet, als Soll an. Auch wenn ein direkter Vergleich unzulässig ist, gibt die Diskrepanz der Häufigkeiten
wahrscheinliche Trends an.
Im Alltag der ärzte sinkt der Anteil derjenigen, welche die besten Mittel einsetzen von 72 % (2004) über 66 % (2005) auf 62 %
(2007) und bewegt sich der Anteil, deren Versorgungs-Alltag sich nicht nach den Kosten richtet, kaum, nämlich zwischen 47 %, 48 % und 46 %.
Nur 34 % der Patienten hatten den Eindruck, ihre Behandlung werde gar nicht von Kostenerwägungen beeinflusst. Bedenkt man,
dass Patienten nur bedingt in der Lage sind, zu überblicken, auf Basis welcher Erwägungen Versorgungsentscheidungen getroffen
werden und außl;erdem die dem Rollenverhalten von Patienten geschuldete Tendenz Behandlungsfehler oder Versäumnisse zu entschuldigen
(Steffen/Ommen/Pfaff 2008), ist dies ein alarmierendes Signal: Anscheinend ist das Thema Kosten in der Kommunikation mit ärzten und
Pflegepersonal mittlerweile ein gängiges Thema, um Versorgungsentscheidungen / Zeitmangel zu begründen. Die "Entschuldigungstendenz"
könnte auch eine Erklärung dafür liefern, warum im Längsschnitt, d. h. beim Vergleich der Ergebnisse der ersten und zweiten
Patientenbefragung kein DRG-Effekt messbar ist.
5. "DRG führen zu vermehrter Rehospitalisierung und zu Fallsplitting"
Die mit den Daten der Gmünder Ersatzkasse (GEK) bis einschließl;lich 2005 durchgeführten Analysen der Rehospitalisierungsrate
zeigen weder für die Gesamtheit der Behandlungsanlässe noch für die meisten erstdiagnostizierten und behandelten
Krankheitsbilder dramatische Entwicklungen: Die Rate ist zwar zwischen 1990 und 2005 gestiegen (von 16 % der Patienten,
die nach 30 Tagen wieder stationär aufgenommen wurden auf 18 %), ist aber schon deshalb nicht einfach auf den DRG-Einfluss
zurückzuführen, weil der größl;te Teil des Anstiegs bereits zwischen 1990 und 1995 stattfand, nämlich von den besagten 16 % auf
17 % (Braun/Müller 2006: 100).
Auch den Verdacht des Fallsplittings kann man nach den vorliegenden Krankenkassendaten nicht bestätigen
(Braun/Müller 2006: 118). Eine Zunahme von Wiedereinweisungen mit unterschiedlichen Diagnosen ist nur im
Zeitraum 1995 bis 2000 zu erkennen. Von 2000 bis 2005 ist sie sogar wieder rückläufig (Braun/Müller 2006: 102).
6. "DRG stellen bei Pflegekräften und ärzten das traditionelle berufliche Selbstverständnis in Frage"
Fast alle Pflegekräfte wollen 2006 Patienten bei der Behandlung mitentscheiden lassen, nur bei 49 %
entspricht dies ihrer Praxis. 95% der Pflegekräfte stimmen 2006 der Aussage zu, zur Behandlung sollte
grundsätzlich eine soziale und emotionale Zuwendung gehören; nur bei 53 % findet dies auch "ausreichend" statt.
Nur etwa 16 % der ärzte, welche Rationierung von Leistungen voll ablehnen, arbeiten in Kliniken,
in denen dies auch ihre Praxis prägt. Von den 80 bis 90 % der ärzte, welche die soziale und
emotionale Zuwendung zu den Patienten für wichtig halten, schaffen dies praktisch immer weniger:
"Eher nicht" oder "gar nicht" sagen 34 % (2004), 39 % (2005) und 36 % (2007).
Grundsätzlich findet sich auch unter DRG-Bedingungen weiterhin eine großl;e Unterstützung für
einen Primat des medizinisch Notwendigen und eine umfassende Versorgung der Patienten auf
dem Stand der medizinischen bzw. pflegerischen Erkenntnisse. Nicht nur die Patienten (80 %),
sondern auch ärzte (78 %) und Pflegekräfte (87%) stimmen derzeit einer Nachrangigkeit
wirtschaftlicher Erwägungen tendenziell zu. Im Gegensatz zu den Patienten sind es allerdings
nur 31 % der ärzte und 46 % der Pflegekräfte, die dieser Aussage voll zustimmen. Unter
DRG-Bedingungen zeigen sich also Normverunsicherungen, die zwei Drittel der ärzte und
über die Hälfte der Pflegekräfte betreffen. In den Interviews der Fallstudien wird
darüber hinaus sichtbar, dass eine zunehmende Integration gewinnwirtschaftlicher
Erwägungen in das berufliche Selbstverständnis über alle Ebenen der ärztlichen und
pflegerischen Hierarchie hinweg zu beobachten ist.
7. "DRG verbessern die Aufnahme ins Krankenhaus zum Vorteil der Patienten und des Krankenhauses"
Um kostendeckend zu arbeiten, ist es unter DRG-Bedingungen notwendig, schon bei der Aufnahme den
Patienten diagnostisch auf das richtige Gleis zu stellen. Deshalb ist es von Vorteil, bei der Aufnahme
möglichst qualifiziertes Personal einzusetzen, um zu stringenten Behandlungsplänen zu kommen. Gefragt,
welche Mindestqualifikation die diensthabenden ärzte in der Notfallaufnahme haben, wird allerdings
2007 von 75 % (76 % 2005; 74 % 2004) der Befragten eingeräumt, dass keine Mindestqualifikation
erforderlich ist, sodass z. B. Assistenzärzte mit weniger als einem Jahr Berufserfahrung diese
Aufgaben zu erfüllen haben.
In einem fallpauschalierten System ist es für ein Krankenhaus günstig, gleich im Erstkontakt
eine vollständige Patientenakte vorliegen zu haben, da dies die Diagnosestellung und Behandlungsdauer
insgesamt verkürzen kann, überflüssige (teure und teilweise schädliche) Diagnostik vermeiden hilft und
die Dauer belastender Ungewissheit über den Anlass des Krankenhausaufenthalts und die Prognose für die
Patienten verkürzt. Bei der Befragung 2007 lag in 56 % (58 % 2005; 56 % 2004) der Fälle aus Sicht
der ärzte selten bis nie eine vollständige Akte bei Erstkontakt vor. Auch wenn nahezu unverändert
"nur" knapp 12 % der Patienten 2002 und 2005 den Eindruck hatten, der aufnehmende Arzt habe keine
Information über ihre Vorbehandlung, existiert hier offensichtlich noch ein großl;es Verbesserungspotenzial.
8. "DRG verbessern die Entlassung aus dem Krankenhaus und die Überleitung in nachgeordnete Versorgungsformen"
Ein großl;er Verbesserungsbedarf besteht offensichtlich auch bei der Organisation der Entlassung
aus dem Krankenhaus: Nur etwa 55 % der befragten Pflegekräfte bestätigten im Jahr 2003, also
vor der verbindlichen Einführung der DRG, ein gut funktionierendes Entlassungsmanagement mit
Hausärzten und ambulanten Diensten. Drei Jahre später hat sich die Situation nicht etwa verbessert,
sondern verschlechtert (49 %). Auch die ärzte nehmen eher eine Verschlechterung der Situation
seit Einführung der DRG wahr. Dies gilt besonders stark für den Bereich der Rehabilitation,
wo der Anteil der Krankenhäuser mit gut funktionierendem Entlassungsmanagement von 49 % auf
44 % gesunken ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass insgesamt nur in den Häusern von 59 %
(Abnahme um 3 Prozentpunkte) der befragten ärzte überhaupt mit Rehaeinrichtungen im Rahmen v
on Entlassungs- und Überleitungsmanagement kooperiert wird.
Im Hinblick auf den Übergang zur
stationären Pflege hat sich der Anteil der ärzte erhöht, die ein gut funktionierendes
Entlassungsmanagement konstatieren. Ergänzend wird in den Fallstudien deutlich, dass die
Wahrnehmung von Problemen mit dem Entlassmanagement unter DRG-Bedingungen tendenziell
dort zugenommen hat, wo schnellere Entlassungen zu erhöhten Rezidivraten mit Wiedereinweisung
geführt haben. Mehr als 50 % der befragten Krankenhausärzte sagten in allen Wellen,
dass in ihrem Krankenhaus kein Entlassungsmanagement mit niedergelassenen Fachärzten
existiere. Nur 18 % meinen, dass die Kooperation mit Hausärzten gut funktioniere.
In den Fallstudien wurde deutlich, dass sich die Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen
Medizinern und Krankenhausärzten häufig durch Kostendiskussionen verschlechtert hat. Unter
DRG-Bedingungen können derzeit also vermutlich weniger als die Hälfte der Patienten mit einer
koordinierten und auf ihre Lage zugeschnittenen Weiterbehandlung außl;erhalb des Krankenhauses rechnen.
Auch wenn über 80 % der Patienten mit dem Entlassungszeitpunkt zufrieden sind, verlief
doch die Vorbereitung auf die Zeit nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nicht immer
optimal. Im Vergleich der fünf Aspekte, die abgefragt wurden, sieht es bei den Erklärungen
über verabreichte Arzneimittel am besten aus: Knapp zwei Drittel der Patienten wurden voll
und ganz aufgeklärt. Über 10 % erhielten aber trotz ihres Bedarfs keine Erklärungen. Etwas
über 60% sagten, dass die ärzte ihnen ausführlich erklärt hätten, wie sie sich nach der Entlassung
verhalten und welche Warnsignale sie beachten sollten. Mit gut 50% wurde ausführlich besprochen,
wann die gewohnten Alltagsaktivitäten wieder aufgenommen werden könnten und gut 40% wurden über
Möglichkeiten der Hilfe zur Selbsthilfe bei der Genesung aufgeklärt. Am schlechtesten sieht es
bei der Einbeziehung von Angehörigen in den Nachsorgeprozess aus. Nur bei knapp einem Viertel
wurden die Angehörigen ausführlich aufgeklärt, wie sie zur Genesung beitragen können.
Im Zeitverlauf, also im Vergleich der ersten (2002) und zweiten (2005) Befragungswelle,
hat sich die Vorbereitung auf die Zeit nach der Entlassung nur wenig verbessert bzw. bei
der Erklärung der Medikamenteneinnahme ist sogar eine leichte Verschlechterung festzustellen.
Es wundert nach dem Gesagten auch nicht, wenn aus Sicht der Patienten die Kontinuität der
Behandlung zwischen dem Krankenhaus und den niedergelassenen ärzten nicht immer
sichergestellt ist: Bei der ersten Patientenbefragung sagten immerhin etwa 20%
der Befragten, dass der Hausarzt Therapiemaßl;nahmen des Krankenhauses nicht, nur
mit Vorbehalt oder erst nach Rücksprache mit dem Krankenhaus weitergeführt hat.
Bei der zweiten Befragung waren es noch etwa 16%.
In der zweiten Welle der Fallstudien wurde deutlich, dass die Krankenhäuser dazu
übergehen, ein professionelles Einweisermanagement zu betreiben, was z. B. auch
Absprachen mit Niedergelassenen hinsichtlich der Verordnung von Medikamenten bedeutet,
um die Kontinuität der medikamentösen Therapie, unter Berücksichtigung der
niedrigeren Arzneimittelbudgets im ambulanten Bereich, sicher zu stellen.
9. "DRG fördern über eine Verkürzung der Liegezeiten die rechtzeitige Entlassung
aus dem Krankenhaus"
Unter DRG-Bedingungen wird die Verkürzung der Liegezeiten, die allerdings schon in
den 1990er Jahren einsetzte, weiter vorangetrieben und eine striktere Durchsetzung
der AEP-Kriterien von Krankenkassen betrieben, wodurch stationäre Aufenthalte
verringert werden sollen. Hierdurch verlagert sich der Heilungsprozess in den
nachstationären Bereich, dessen Mittelausstattung und teilweise medizinische
Kompetenz (z. B. Wundmanagement) im Vergleich zum akutstationären Bereich schlechter
ist. Dadurch bestehen Anreize zur Unterversorgung von Patienten. Die Verkürzung der
Liegezeiten wirkt sich für ältere Patienten tendenziell negativ aus, da soziale
Kriterien bei der Entscheidung über den Entlassungszeitpunkt zunehmend keine
Rolle mehr spielen. Parallel zu der DRG-Einführung nimmt die Bedeutung
ambulanter Operationen zu, eine Entwicklung, die von vielen Patienten
gewünscht, aber nicht von allen ärzten uneingeschränkt positiv bewertet
wird, da Komplikationen auftreten können und die Nachsorge den niedergelassenen
ärzten und unterfinanzierten Pflegediensten überlassen ist, zu denen häufig
keine bzw. keine guten Kooperationsbeziehungen bestehen. Der Anstieg der Anzahl
ambulanter Operationen trägt außl;erdem zur Erhöhung der durchschnittlichen
Fallschwere der dann noch stationär behandelten Patienten bei, die bereits durch
demographische Faktoren erhöht wird (z. B. Zunahme älterer und dementer Patienten).
Wenn die dadurch zu verzeichnende qualitative Verdichtung der Krankenhausarbeit zutrifft,
reicht aber z. B. der Erhalt des personellen Status quo ante nicht aus, das vor Einführung
der DRG und der laufenden Vergrößl;erung des Anteils ambulanter Operationen existierende
Versorgungsniveau zu halten.
10. "DRG fördern die Kooperation und den patientenbezogenen Informationsfluss
zwischen den Berufsgruppen im Krankenhaus."
Anhand der uns zur Verfügung stehenden Daten wirken die DRGs auf die Kooperation in zweierlei
Hinsicht: Auf der einen Seite liefern sowohl die quantitativen als auch die qualitativen Erhebungen
Hinweise darauf, dass sich die Kooperationsbereitschaft zwischen den Berufsgruppen unter DRG-Bedingungen
verbessert und eine Annäherung über professionelle Grenzen hinweg stattfindet. Auf der anderen Seite
nimmt der Anteil der Befragten zu, die der Meinung sind, dass die DRGs einen negativen Einfluss auf
die faktischen Möglichkeiten (Zeitmangel) zu fachlicher Kooperation und Information haben.
Zumindest der Informationsfluss hat sich unter DRG-Bedingungen nicht verbessert, obwohl beschleunigte
Abläufe vermehrte Kooperation erfordern, um beispielsweise (Behandlungs-)Fehler zu vermeiden. So ist
etwa der Anteil der ärzte, die von regelmäßl;igen Besprechungen mit Pflegekräften berichten, zwischen
ihrer ersten und dritten Befragung um 4 Prozentpunkte von 46% auf 42% gesunken. Der Anteil der
Pflegekräfte, die Informationen über Patienten nur zufällig erhalten, ist von 15% auf 18% angestiegen.
Zusammenfassend gesagt haben sich die - formellen - Kommunikationsstrukturen unter DRG-Bedingungen
eher verschlechtert als verbessert. Vor allem die gemeinsame Visite von Pflegekräften und ärzten
findet immer seltener statt, weil die Pflegekräfte aufgrund der Personalknappheit weniger Zeit
haben und die ärzte keine festen Visitenzeiten einhalten, auf die sich die Pflegekräfte einstellen
können. Durch den Wegfall der gemeinsamen Visite werden Informationsverluste und Fehler bei der
Patientenversorgung wahrscheinlicher.
11. "DRG fördern die Strukturierung der Behandlungsabläufe."
Etwa 58% der ärzte sagen, dass in ihren Häusern zumindest in Ansätzen klare und koordinierte
Abläufe von der Aufnahme bis zur Entlassung (Case Management/Clinical Pathways usw.) existieren.
Der Anteil hat sich zwischen den Befragungswellen um 12 Prozentpunkte erhöht. Es ist allerdings
darauf hinzuweisen, dass diese Frage keinen Aufschluss über Umfang und Qualität der Behandlungsleitlinien
bietet. Offen bleiben zudem, wie verbindlich diese Leitlinien für die behandelnden ärzte und
Pflegekräfte sind bzw. ob Behandlungspfade auch tatsächlich handlungsleitend wirken. Je nach
Position der Befragten bestehen unterschiedliche Einschätzungen hinsichtlich der Existenz von
klaren und koordinierten Abläufen. Dass es die leitenden ärzte sind, die häufiger die Existenz
von Case Management, Clinical Pathways und Leitlinien bejahen, bestätigt den nicht selten in
Interviews geäußl;erten Verdacht, die vorhandenen Pathways spielten für Assistenzärzte in der
Praxis eine weitaus geringere Rolle als auf dem Papier. Differenziert nach Fachgebieten fällt
auf, dass die Versorgung in chirurgischen Abteilungen offenbar am stärksten von koordinierten
Abläufen geprägt ist. Die Krankenhausgrößl;e hat dagegen keinen Einfluss. Demgegenüber besteht
nach Ansicht der ärzte in freigemeinnützigen und privaten Häusern eher als in öffentlichen
Häusern die Neigung, Case Management, Clinical Pathways und Leitlinien einzuführen oder zu entwickeln.
Auch nach Meinung der Pflegekräfte sind die Behandlungsabläufe unter DRG-Bedingungen stärker
standardisiert worden. Strukturierte Abläufe in Form von Case Management oder Clinical Pathways
werden 2006 von 50% der befragten Pflegekräfte gegenüber 43% in 2003 berichtet. Knapp über 40%
der Pflegekräfte gaben außl;erdem 2006 an, in Krankenhäusern zu arbeiten, in denen die elektronische
Patientenakte eingeführt war. Die meisten Merkmale der Pflegeorganisation haben sich im Vergleich
der Jahre 2003 und 2006 dagegen wenig verändert. Mehr als 80% geben an, dass immer oder überwiegend
nach Pflegestandards und Behandlungspfaden gepflegt wird, aber nur etwa die Hälfte der Pflegenden
sagt, dass es für jeden Patienten eine Pflegeplanung gibt.
Abteilungen für Kurzzeit-Patienten existieren nach Meinung von 43% (+4 Prozentpunkte) der ärzte.
Abteilungen für poststationäre Versorgung sind in den Einrichtungen von 40 % (+6) der befragten ärzte
vorhanden. Dieses Wachstum im Wellenvergleich kann man als DRG-Effekt bezeichnen, denn in der zweiten
Welle der Fallstudien wurde uns erläutert, dass im Rahmen von Mischkalkulationen zunehmend ambulante
Behandlungen durchgeführt werden, um Einnahmen außl;erhalb des DRG-Systems zu generieren.
12. "DRG verschlechtern die sozialen und materiellen Arbeitsbedingungen aller Beschäftigten im Krankenhaus."
Durch die aus ihrer Sicht höheren Anforderungen (Mischstationen) und den erhöhten Zeitdruck fühlen
sich die Pflegekräfte in gestiegenem Ausmaßl; nicht mehr gut genug für ihre Arbeit ausgebildet. Waren
2003 noch fast 80 % der Meinung, sie seien gut ausgebildet, sagen dies 2006 nur noch gut 60 %.
Neben dem Zeitdruck werden auch vermehrt Unterbrechungen, administrative Tätigkeiten und die
Angst um den Arbeitsplatz als Belastungen wahrgenommen. Die Zahl derer, die Angst um ihren
Arbeitsplatz haben, weil sie sich den Anforderungen nicht mehr gewachsen fühlen, steigt von
knapp 2 % auf gut 8 %. Die Pflege war in den letzten Jahren von Stellenabbau betroffen, der
zu einer Verringerung der "Hände" pro Schicht und Station geführt hat, während gleichzeitig
die durchschnittliche Stationsgrößl;e zugenommen hat.
Für ärzte steht z. B. durch die Beschleunigung der Abläufe noch mehr als bisher die Ganzheitlichkeit
der Behandlung in Frage: Nur 14% (+/-0) der Befragten sind der Meinung, dass sie ihren Patienten
genügend soziale und emotionale Zuwendung zukommen lassen. 47 % (-5) sind zumindest eingeschränkt
der Ansicht, dies zu schaffen. Für 35 % (+4) ist dies grundsätzlich eher nicht der Fall und für 4 %
(+1) gar nicht. Auch Pflegende sagen, sie würden den Patienten zu wenig (32 %) oder gar keine (4 %)
soziale und emotionale Unterstützung zuteilwerden lassen.
Diejenigen ärzte, die als eine ihrer ausgeprägten negativen Arbeitsbedingungen angaben, ihr
tägliches Arbeitspensum nicht oder nicht den Anforderungen entsprechend zu schaffen (74 % der
Befragten, +8), konnten eine Reihe möglicher Ursachen ankreuzen. 46 % (+2) dieser ärztegruppe
betrachten "starke Konflikte zwischen Versorgungsqualität und Kostendruck" und 44 % (+9) "starke
Konflikte zwischen Berufsethos und Kostendruck" als ursächlich für ihre Überforderungssituation.
Den zum Teil als zunehmend empfundenen, jedenfalls aber nicht geringer werdenden Arbeitsbelastungen
stehen Ressourcen (z. B. interessante Tätigkeit) gegenüber, welche die erwartbaren negativen
Auswirkungen der DRG für die Arbeitszufriedenheit erheblich reduzieren oder gar vermeiden helfen.
Für ärzte haben diese Ressourcen gar nicht abgenommen, während für Pflegekräfte in den meisten
Bereichen ein leichter Rückgang zu verzeichnen ist.
13. DRG erhöhen den Umfang administrativer Arbeit zu Lasten patientennaher Tätigkeiten
Für diese oft von ärzten und Pflegekräften beklagten Tendenzen gibt es weniger und schwachere
empirische Belege als erwartet. Das Verhältnis beider Tätigkeitsarten scheint relativ stabil
zu sein und unterscheidet sich auch nicht in Subgruppen der beiden Beschäftigtengruppen. So
ist beispielsweise der Anteil medizinischer Tätigkeit auch bei ärzten in Privatkrankenhäusern
wider Erwarten nicht höher als der bei ihren KollegInnen in kommunalen oder anderen öffentlichen
Kliniken. Diese Ergebnisse der schriftlichen Befragung stehen in krassem Gegensatz zu den
Einschätzungen der qualitativen Interviews, in denen sowohl von ärzten als auch Pflegekräften
betont wird, dass administrative Tätigkeiten zugenommen, sich die Arbeit verdichtet und zunehmend
zu wenig Zeit für Patienten vorhanden sei.
14. "DRG beeinträchtigen die Beziehungen zwischen Patienten und Beschäftigten im Krankenhaus"
"Da die Patienten (...) zugleich Arbeitsgegenstand und Mitproduzenten sind und als solche Bestandteil
der Arbeitsprozesse, sind keine relevanten Veränderungen der Arbeit denkbar, von denen die Patienten
nicht (zu ihrem Vor- oder Nachteil) betroffen wären und keine relevanten Veränderungen der
Patientenstruktur, die sich nicht auf die Arbeit auswirken würde" (Braun/Kühn 2003: 13).
Analysen dieser Wechselwirkungen sind im methodischen Design von WAMP nur mit allen Einschränkungen
der Aussagefähigkeit von Aggregatanalysen (Gefahr "ökologischer Fehlschlüsse") möglich, da z. B.
nicht die Patienten der befragten Pflegekräfte oder ärzte bzw. die mit der Behandlung der befragten
Patienten betrauten Beschäftigten befragt wurden.
Trotzdem gibt es Hinweise auf solche interaktive Prozesse und ihre Bedeutung: Zu den wahrscheinlich
nicht erst unter DRG-Bedingungen für Patienten und deren Empfehlung des Krankenhauses an Dritte relevanten
Merkmalen der Krankenhaus-Beschäftigten gehört z. B. der Eindruck, ärzte und Pflegekräfte könnten gut
miteinander kooperieren oder die Existenz eines festen ärztlichen Ansprechpartners (siehe ausführlich
Braun/Müller 2003). Umgekehrt fällt auf, dass ein relativ geringer aber zunehmender Teil der
Pflegekräfte und ärzte Patienten und ihre Angehörigen als Belastungen oder "Störfaktoren"
wahrnehmen. Wie eine Studie zur Kommunikation professioneller Helfer über die tatsächlich
oder angebliche Zunahme des Anspruchsverhaltens von Patienten zu belegen versucht (Dieterich 2006),
spielt die damit verbundene Herstellung von Distanz eine wichtige Rolle bei der Entlastung z. B.
der ärzte vom "schlechten Gewissen" über Rationierungsentscheidungen: "Die Umdeutung von (leidenden)
Patientinnen und Patienten zu (anspruchsvollen) Kundinnen und Kunden erleichtert die Auflösung einer
als belastend erlebten "moralischen Dissonanz" zwischen Patientenerwartungen, eigenen ethischen
Wertvorstellungen und erlebten Sachzwängen wie Ressourcenknappheit. Gleichzeitig bergen diese
Verschiebungen auch Konsequenzen für Patientinnen und Patienten, indem Versorgungsansprüche
nur noch eingeschränkt als legitim wahrgenommen werden." (Dieterich 2006: 49)
Methodische Herausforderungen, Beschränkungen und Vorteile
Eine Politikfolgenforschung, die mit sozialwissenschaftlichen Methoden der Längsschnittanalyse
Wirkungen der DRG auf das und im Innenleben des sozialen Systems Krankenhaus, also bei Patienten, Pflegekräften
und ärzten ermitteln will, ist möglich, richtig und ertragreich. Eine solche Methodik ist daher auch für andere
vergleichbar intensive Interventionen zu empfehlen.
Dabei treten aber auch einige methodische Schwierigkeiten auf, die Auswirkungen auf die Möglichkeiten
haben, bestimmte Veränderungen überhaupt oder verlässlich und vollständig messen zu können:
Dazu zählt das Problem von Ankündigungseffekten im Vorfeld von Gesetzesänderungen und generell
die Lückenhaftigkeit der Kenntnisse über DRG-relevante Bedingungen der stationären Versorgung
im langjährigen Vorfeld der DRG-Einführung. Beide Probleme erschweren die Möglichkeit von Begleitforschung.
Inhaltlich bedeutend sind außl;erdem die Schwierigkeiten, unter dem Einfluss der sich verändernden
Krankenhauswirklichkeit und der sich ändernden Wahrnehmungsstandpunkte der Befragten zeitstabil
vergleichbare Aussagen über Sachverhalte zu erheben. Die scheinbar paradoxen Widersprüche oder
das Nichtzueinanderpassen der allgemeinen Bewertung eines zunehmenden Arbeitszeitanteils für
administrative Tätigkeiten und der geringen Veränderung der quantitativen Darstellung dieses
Anteils insbesondere bei den Pflegekräften sind vermutlich ein Ausdruck dieser Wahrnehmungsverschiebungen
unter Veränderungsdruck.
Eine besondere Herausforderung stellen auch die Schwierigkeiten dar, von Patienten vergleichbare Angaben
über die Qualität ihrer Versorgung zu erhalten. Sieht man einmal von der generellen Schwierigkeit ab,
von meist älteren und geschwächten Personen zu Details ihrer Behandlung valide Aussagen erheben zu können,
erscheinen deren memorierte Wahrnehmungen spezifisch gefiltert: Dies betrifft etwa die aus Patientensicht
sogar gesundheitlich positive poststationäre Vergesslichkeit gegenüber negativen Behandlungserfahrungen
oder die stillschweigende Absenkung des Erwartungs- oder Anspruchsniveaus an die Behandlung. Beides
führt zu einer insgesamt positiveren aber nicht der Wirklichkeit entsprechenden Bewertung der
Versorgungsqualität. Umgekehrt gibt es aber auch empirische Hinweise, dass bestimmte Patienten ex post
eine Behandlungssituation schlechter bewerten als dies unabhängige teilnehmende Beobachter wahrnehmen.
Generell hat man es bei subjekt- oder akteurbasierter Forschung aber auch noch mit dem allgemeinen
Problem zu tun, dass die befragten Beschäftigten und teilweise auch die Patienten nicht allein "Objekt",
"Opfer" oder "Betroffene" politischer oder administrativer Intervention, sondern auch "Mitproduzenten"
einer Versorgungsrealität sind, deren Veränderung man nun von ihnen als "Subjekt" erfahren will.
Man muss wegen der dadurch induzierten und belastenden Rollenambiguität davon ausgehen, dass ein Teil
der zu messenden Veränderung durch Wahrnehmungsverschiebungen nivelliert wird, sei es um den belastenden
Dissonanzen von ethischem und professionellem Soll und Ist auszuweichen, sie erträglich zu machen oder den
"Eigenanteil" gegenüber sich und anderen zu rechtfertigen. Umso bedeutsamer erscheint es dann aber, wenn im
Längsschnitt trotzdem beispielsweise eine Zunahme von Dissonanzen messbar ist.
Schließl;lich führt die methodische Anlage des Projekts auch zu einer Reihe inhaltlicher Erkenntnisse über die
Performanz strukturverändernder Gesundheitspolitik oder der Möglichkeit von Strukturveränderungen in komplexen
sozialen Systemen und der Vielfalt dabei zu berücksichtigender Faktoren. Besonders kommt dies dort zum Ausdruck,
wo sich bisher entgegen der theoretischen Annahmen und politischen Erwartungen über die Wirkrichtung und -stärke
der DRG weniger, andere oder gar keine Wirkungen zeigen. Dies gilt sowohl für die befürchteten Selektionseffekte
oder die erwartete wesentlich stärkere Strukturierung der Versorgungsabläufe von der Aufnahme bis zur Entlassung.
Welche hemmenden und fördernden Bedingungen empirisch dafür verantwortlich sind, dass trotz plausibler ökonomischer
Anreiz- und Interessenstruktur weniger selektiert wird als erwartet und weniger für eine zielgerichtete und zügige
Behandlung von Patienten getan wird als dem Patienten und dem Krankenhaus "eigentlich" gut täte, kann hier nur
vermutet werden, da sie nicht systematisch erhoben worden sind. Einige Bedingungen, von denen derartige moderierende
Funktionen erwartet wurden, wie etwa der Trägerstatus oder die Größl;e der Krankenhäuser, hatten meistens keinen
oder einen lediglich geringen nachweisbaren Einfluss.
In künftigen Studien sollte daher der Einfluss einer Reihe weiterer möglicher Einflussfaktoren für die wider
Erwarten zögerlichere aber auch beschleunigtere Umsetzung von politischen Veränderungsabsichten hypothetisch
berücksichtigt und überprüft werden. Dazu gehören so heterogene Faktoren wie die Führungsqualität in den
Kliniken, eine noch genauere Erhebung der Kooperationsverhältnisse im Krankenhaus und die öffentliche
Kommunikation über "die Situation des Krankenhauses", die zum Teil pessimistischer ist als die wirkliche
Lage. Dass solche Variablen in unserer Studie fehlen, kann ein Grund für die vergleichsweise geringe
Erklärungskraft unserer multivariaten Regressionsmodelle sein. Für die damit eindeutig notwendige weitere
Forschung u. a. mit anderen Methoden werden soweit möglich Hinweise auf Merkmale gegeben, die dann einzubeziehen wären.
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