University of Bremen

 

 

 

 
 


 

Kooperationsprojekt der Arbeitsgruppe Public Health des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und des Zentrums für Sozialpolitik der Universität Bremen.

 



WAMP

Wandel von Medizin und Pflege im DRG-System

Sozialwissenschaftliche Längsschnittsanalyse der Auswirkungen des DRG-Systems auf den pflegerischen und medizinischen Dienstleistungsprozess und
die Versorgungsqualität im Krankenhaus.




                                                                                                                    
Durchführung

Arbeitsgruppe Public Health (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung) und
Zentrum für Sozialpolitik (Universität Bremen)

       

Leitung
Dr. rer. pol. Bernard Braun (ZeS)                                                                    
Prof. Dr. Rolf Rosenbrock (WZB)                                                                                 

MitarbeiterInnen
Dr. rer. pol. Petra Buhr (ZeS)                                                          
     
Dr.rer.pol. Sebastian Klinke (WZB)                                                
     
Dr. rer. pol. Rolf Müller (ZeS)                                                            
     

Gefördert von:
  Hans-Böckler-Stiftung          

Kooperationspartner
Gmünder Ersatzkasse (GEK)                                                          
Landesärztekammer Hessen                                                                              

Zeitraum:
2003-2010                                                          

                                                                                                                    
Kurzbeschreibung des Projekts


Ziele und sozialpolitische Bedeutung der Studie

Die Dienstleistungsarbeit in den deutschen Krankenhäusern beeinflusst direkt und oft irreversibel Leben und Gesundheit von jährlich über 16 Millionen Patienten, einem Fünftel der Bevölkerung. Das Krankenhaus ist zu einem wichtigen Bestandteil der Lebenswelt der Bürgerinnen und Bürger geworden. Die meisten Bürger werden im Krankenhaus geboren und ein großl;er Teil von ihnen stirbt im Krankenhaus. Die Zuverlässigkeit des Krankenhauses ist Grundlage ihres Vertrauens, im Bedarfsfall schnellen und chancengleichen Zugang zu einer wirksamen Krankenhausbehandlung zu haben. Dieses Vertrauen hat den Charakter eines öffentlichen Gutes und ist ein wesentlicher Bestandteil des Lebensstandards auch derjenigen Menschen, die das Krankenhaus de facto nicht in Anspruch nehmen.

Die deutschen Krankenhäuser wiederum stehen in einem Prozess tief greifender Veränderungen. Die bevorstehende Umstellung der gesamten Krankenhausfinanzierung auf ein diagnosebezogenes Fallpauschalensystem (Diagnosis-Related Groups = DRGs) gilt als das folgenreichste einzelne Reformelement in der Gesundheitspolitik der letzten Jahrzehnte. Alle Leistungen des Krankenhauses (Ausnahme Psychiatrie) sollen einheitlich definiert, pauschaliert und vergütet werden. Das Reformziel besteht darin, die Krankenhäuser verstärkt zu wirtschaftlichem Verhalten zu motivieren, eine effizientere Krankenhausversorgung zu erreichen, überflüssige Leistungen zu reduzieren, die Verweildauer (weiter) zu senken und Kapazitäten abzubauen ohne die Qualität der Versorgung zu verschlechtern. Der Umstellungsprozess wird als äußl;erst komplex und in seinen Auswirkungen unvorhersehbar angesehen. Offen ist nicht nur, inwieweit die positiven Reformziele einschließl;lich der damit einhergehenden Gestaltungschancen realisiert werden können, sondern auch, ob und in welchem Umfang nicht intendierte unerwünschte Effekte auftreten und wie ihnen begegnet werden kann.

Vor diesem Hintergrund zielt das Projekt darauf, sowohl die Entwicklungschancen des Umstellungsprozesses auf das DRG-System als auch die nicht intendierten Versorgungsrisiken zu identifizieren. Die Implementierung des Fallpauschalengesetzes erfolgt über mehrere Jahre und mehrere inhaltliche Stufen, die durch das Projekt begleitet werden sollen.

sozialwissenschaftlicher Ansatz

Der inhaltliche und forschungsökonomische 'archimedische Punkt', an dem wir ansetzen ist der medizinische und pflegerische Dienstleistungsprozess bzw. die Krankenhausarbeit. Medizinische und pflegerische Dienstleistungen sind dadurch gekennzeichnet, dass Produktionstätigkeit und Konsumtion zugleich in einem Prozess ('uno actu') erfolgen. Um sowohl die Patienten- als auch die Organisationsperspektive erfassen und zueinander in Beziehung setzen zu können, wird das Krankenhaus als ein soziales System betrachtet, das durch die Produktion medizinischer und pflegerischer Dienstleistungen strukturiert wird. Nach unserem Verständnis sind die Patienten darin keine jenseits der Produktion stehenden Abnehmer bzw. Konsumenten, sondern Bestandteil dieses Produktionsprozesses selbst. In den medizinischen und pflegerischen Arbeitsprozessen spielen sie eine Doppelrolle als 'Arbeitsgegenstand' und 'Mitproduzent'. Als Arbeitsgegenstand (am deutlichsten ausgedrückt durch die Lage auf dem Operationstisch im narkotisierten Zustand) sind sie Objekte, während sie überall dort, wo es auf ihre Motivation und ihr Verhalten ankommt und sie ihr Selbstbestimmungsrecht ausüben (können), auch Subjekte und Mitproduzenten im medizinisch-pflegerischen Arbeitsprozess sind. Nahezu jeder Aspekt des Wandels dieser Arbeitsprozesse bzw. der Krankenhausorganisation beeinflusst ihre Lage und damit die Qualität der Versorgung.

Erhebungsdesign

Zur Untersuchung der Folgen der DRG-Einführung wurde ein mehrdimensionales Längsschnittdesign entwickelt:

  • Aufgrund der zentralen Bedeutung der Krankenhausdienstleistung als Arbeits- und Interaktionsprozess mit dem Patienten wurden zwei in sich selbständige, aber inhaltlich, zeitlich und methodisch aufeinander abgestimmte Projekte konzipiert, die jeweils auf unterschiedliche Dimensionen des Dienstleistungsprozesses zielen. Bei den Projekten, die parallel durchgeführt werden, handelt es sich um eine ärzte- bzw. Pflegekrafterhebung, die von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wird, und eine Patientenerhebung, die als Eigenprojekt von ZeS und WZB durchgeführt wird. Die Ergebnisse der Projekte sollen systematisch aufeinander rückbezogen werden, um so die Untersuchung der medizinischen und pflegerischen Dienstleistungsarbeit sowohl zu erweitern als auch zu kontrollieren.
  • Die Veränderungen, die die Einführung des DRG-Systems für den Dienstleistungsprozess und die Versorgungsqualität hat, können nur dann angemessen erfasst und bewertet werden, wenn die Ausgangslage bekannt ist. Die erste Erhebungswelle fand deshalb - aus Eigenmitteln von ZeS und WZB finanziert – vor bzw. kurz nach der zunächst freiwilligen Umstellung auf DRG statt. Die beiden nächsten Wellen sollen die Veränderungen während der Konvergenzphase und am Ende der Umstellung auf DRG abbilden.

Das von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Projekt legt den Schwerpunkt der Erhebung und Analyse auf die Versorgung aus der Arbeits- und Beschäftigtenperspektive. Das umfasst die beiden Variablen "Arbeit" und "Interaktion" (s. Abbildung). Im Zentrum der Erhebungen stehen das pflegende und ärztliche Personal. Kern der Untersuchung sind in drei Wellen wiederholt durchgeführte Befragungen zur Arbeit und Versorgungsqualität aus der Sicht der ärzte und Pflegekräfte. Ergänzt werden diese Erhebungen durch empirische Fallstudien in ausgewählten deutschen Krankenhäusern sowie durch die Beteiligung von Fokusgruppen aus Patienten, Pflegekräften und ärzten.

Das zweite, parallel begonnene Eigenprojekt untersucht ebenfalls die Interaktionsbeziehungen, im Zentrum stehen dabei aber die Erfahrungen der Patienten und die Variable "Interaktion" aus der Patientenperspektive. Empirische Grundlagen des Eigenprojekts sind wiederholte schriftlich standardisierte Befragungen von ca. 6.000 Versicherten der bundesweit vertretenen Gmünder Ersatzkasse (GEK), die vor nicht länger als zweieinhalb Monaten aus einer Krankenhausbehandlung entlassen wurden. Hinzu kommen Auswertungen von Routinedaten dieser Krankenkasse.

 Abbildung: Variablenstruktur des Gesamtprojekts

 
Vorarbeiten

Für alle drei Untersuchungsfelder sind Fragebögen entwickelt und mehrfach in Fokusgruppen und Probeerhebungen getestet worden. Die ersten Patienten- und Pflegekraftbefragungen wurden 2003 durchgeführt. Die erste ärztebefragung wurde Anfang 2004 durchgeführt.

Ergebnisse - Kurzform

Bei den im Folgenden und insbesondere im Teil über die Mikroebene vorgestellten empirischen Ergebnissen des Projekts "Wandel von Medizin und Pflege im DRG-System" (WAMP) handelt es sich um Ergebnisse der Untersuchung einer Reihe von Hypothesen, die vor allem die politisch und wissenschaftlich kommunizierten Risiken und Chancen der DRG-Einführung vor und zu Beginn des Einführungsprozesses aufgreifen und außl;erdem Erkenntnisse früherer, zum Teil eigener Forschung berücksichtigen. Es handelt sich also nicht um Antworten auf willkürlich oder pragmatisch ausgewählte inhaltliche Aspekte der Veränderungen im Krankenhausbereich. Ebenso wenig handelt es sich um Ergebnisse des Versuchs, eine elaborierte Theorie zu den Struktur- und Handlungsbedingungen des sozialen Systems Krankenhaus zu verifizieren oder zu falsifizieren.
In einigen Ländern existieren prospektive Krankenhaus-Finanzierungssysteme, wie z. B. DRG-Fallpauschalen, schon länger als in Deutschland. Nach den Erfahrungen aus diesen Ländern haben DRGs insbesondere Auswirkungen auf die Kriterien der stationären Behandlungsnotwendigkeit, die Verweildauer im Krankenhaus und die Schnittstellen zur nachstationären Versorgung, die Versorgung älterer und multimorbider Patienten sowie die Arbeitsbedingungen der Pflegenden. Insgesamt gesehen sind die nachweisbaren Folgen für die Versorgungsqualität jedoch weniger eindeutig als erwartet. Vor allem in jüngster Zeit gibt es allerdings Hinweise darauf, dass Personalabbau in der Pflege zu einer Verschlechterung der Versorgungsqualität führt (z. B. erhöhte Mortalitätsraten). Unklar ist, ob und wieweit die Erfahrungen anderer Länder mit unterschiedlichen Gesundheitssystemen, unterschiedlichen Versorgungsansprüchen (Grundversorgung versus Vollversorgung) und unterschiedlichen Deckungsgraden (Teilfinanzierung durch Fallpauschalen versus Vollfinanzierung) auf Deutschland übertragen werden können. Ihre Ergebnisse werden in diesem Projekt gleichwohl genutzt, um vorhandene Hypothesen zu unterstreichen oder zusätzliche zu generieren.
Die DRG-Folgenforschung in Deutschland ist trotz eines eindeutigen gesetzlichen Auftrags bisher nur in Ansätzen vorhanden. Die öffentlichen Qualitätsberichte behandeln vorrangig Struktur- und Prozessqualität, jedoch kaum die Ergebnisqualität. Es gibt bislang keine repräsentativen quantitativen und qualitativen Längsschnittstudien, die Veränderungen von Arbeitsbedingungen und Versorgungsqualität während der DRG-Einführung messen und dabei alle Gruppen im Krankenhaus zugleich in den Blick nehmen. Mit Ausnahme der REDIA-Studie, die sich mit den Folgen der DRG-Einführung für die Rehabilitation beschäftigt, ermöglicht keine der vorliegenden Studien einen Vorher-Nachher-Vergleich, da entsprechende Vergleichsdaten vor Einführung der DRG nicht erhoben wurden. Insoweit lässt sich anhand der vorliegenden Studien nicht abschätzen, welche Folgen die DRG-Einführung für die Patientenversorgung und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten hat. Eine integrative Betrachtung aller am Dienstleistungsprozess im Krankenhaus beteiligten Gruppen ist soweit ersichtlich bisher in keinem Land vorgelegt worden.


Ergebnisse und Erkenntnisse auf der Makroebene: Grundzüge der Gesundheitspolitik der letzten 30 Jahre

Obwohl sich im SGB V weiterhin ein umfassender Versorgungsanspruch der Versicherten findet, ergänzt durch die Forderung nach Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots, ist die Tatsache auffällig, dass fast jedes der vielen Reformgesetze seit 1977 eigentlich nur ein Ziel hatte: Es ging darum, mit unterschiedlichen Instrumenten, unter Förderung oder Schwächung anderer Strukturprinzipien der GKV, das Wirtschaftlichkeitsgebot in einer spezifischen Interpretation, nämlich als Gebot zur Wahrung der Beitragssatzstabilität zu stärken.
Die Hauptwirkungsrichtungen der gesundheitspolitischen Reformgesetze lassen sich demnach als starke Aufwertung des Wirtschaftlichkeitsgebots, unter formaler Stärkung des durch Zentralisierung und weitgehenden Wegfall einer aktiven demokratischen Legitimation durch Wahlen geprägten Selbstverwaltungsprinzips und der Eigenverantwortung bei gleichzeitiger Abwertung des Sachleistungsprinzips, des Solidarprinzips sowie des Bedarfsprinzips darstellen.
Von den Veränderungen auf der Makroebene der Politik lässt sich also vor allem eine direkte oder indirekte Thematisierung von Konflikten zwischen Versorgungsgebot und Wirtschaftlichkeitsgebot bei den Akteuren auf der Mikroebene der Implementation (Krankenhaus) erwarten.


Ergebnisse und Erkenntnisse auf der Mikroebene

Eine Reihe der seit Beginn dieses Jahrzehnts befürchteten oder erhofften Veränderungen im Krankenhaus haben bereits vor der praktischen Implementation und damit Einwirkungsmöglichkeit der DRG begonnen. Offensichtlich bewirken auch andere Rahmenbedingungen und Interventionen als die DRG (z. B. die seit Beginn der 1990er Jahre gültige Budgetierung) Veränderungen, die man auch von den DRG erwarten könnte oder es handelt sich um einen Ankündigungseffekt der DRG, der manche Akteure veranlasste, sich frühzeitig "gut aufzustellen".
Sowohl was die von den DRG befürchteten negativen Auswirkungen (z. B. "blutige Entlassungen") als auch die erhofften Veränderungen des Versorgungsprozesses angeht, sieht die Wirklichkeit nach mehreren Jahren DRG-Alltag in vielen Punkten völlig anders aus. Weder sind negative Veränderungen in der erwarteten Breite und Intensität bisher empirisch nachweisbar noch haben sich selbst bei hochplausiblem Eigeninteresse der Krankenhäuser Verbesserungen bei der Strukturierung der Behandlungsabläufe unter besonderer Berücksichtigung der Aufnahme und Entlassung von Patienten flächendeckend durchgesetzt. Trotz verstärkter finanzieller Anreize Versorgungspfade zu optimieren, durch in der Konvergenzphase zunehmende Budgetrestriktionen, sind z. T. gegenläufige Entwicklungen zu beobachten (z. B. Verschlechterungen der Kooperation mit nachstationären Versorgungeinrichtungen).
Die Gründe für diese aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht schlagartig mit den 2009 endgültig "scharfgestellten" DRG verschwindende Nicht- oder Fehlwirkung der DRG sind vielfältiger Natur: Ein wesentlicher Grund könnte sein, dass es genug Akteure gibt, die sich im Zeichen der makropolitisch nach wie vor existierenden Ambivalenz zwischen bedarfsgerechter Versorgung und Wirtschaftlichkeitsgebot für erstere entscheiden und dafür auch noch genügend Freiheitsgrade haben. Ein zweiter Grund könnten die momentane Weiterexistenz und -wirkung von fachlichen oder hierarchischen Strukturen und Prinzipien des Krankenhauses (z. B. Chefarztprinzip) sein, die auch gegen den gegenwärtigen wirtschaftlichen Druck stärker wirken. Ein weiterer Grund ist die Zähigkeit der Auflösung der von uns identifizierten Dissonanz von ethischen und professionellen Handlungsnormen und Wirtschaftlichkeit zugunsten letzterer.
Ein Teil der "überraschenden" Befunde über die überhaupt noch nicht oder nur partiell eingetretenen aber erwarteten DRG-Auswirkungen mag aber auch dem Charakter des Projektes als Politikfolgenforschungsprojekt geschuldet sein. Bei aller kritischen Distanz gegenüber politischen Interventionen traut man ihnen mehr und schnellere Wirksamkeit zu, als sie eigentlich erreichen können. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden die Befürchtungen und Erwartungen, die mit der DRG-Einführung verbunden wurden, genannt und mit den empirischen Ergebnissen des Projekts konfrontiert.

1. "Die DRG bilden die wirkliche Morbidität unzureichend ab".
Die Furcht, dass es mit den DRG nicht gelingt, die Fülle der stationären Morbidität zu erfassen und in ihrer Komplexität abzubilden und zu vergüten, ist nach Auffassung der beteiligten Akteure weitgehend unberechtigt. Die Anzahl der DRG betrug 2008 1.137 und hatte sich damit gegenüber 2007 immerhin nochmal um 55 vergrößl;ert. Verbesserungen gab es auch in Bereichen mit extrem komplexen und schwer zu kalkulierenden Leistungen wie z. B. der Geriatrie oder Pädiatrie. Damit liegt die Anzahl der DRG des deutschen "Vollversorgungssystems" erheblich über der Anzahl der DRG im US-Versicherungssystem Medicare mit seinen 499 "Health Care Financing Administration"-DRG und über den 661 A-DRG. Der R²-Wert als Maßl; für die Varianzreduktion bzw. die statistische Güte der Klassifikation belief sich 2008 auf 0,7209, gegenüber dem 2007er-Wert von 0,7158.

2. "DRG führen vermehrt zu "blutigen Entlassungen" und Selektionsverhalten"
Insgesamt gibt es nur wenige, geringfügige oder jedenfalls noch nicht eindeutige Belege für eine starke Zunahme vorzeitiger Entlassungen und Patientenselektion. Der Anteil der Patienten, die beim Versuch, einen Platz in einem Krankenhaus zu erhalten, abgewiesen wurden oder von "Tür-zu-Tür" verwiesen wurden, blieb gleich. Der Anteil der Patienten, die meinten, ihr Aufenthalt hätte etwas länger sein können, blieb ebenfalls gleich.
Der Anteil der ärzte, die der Auffassung waren, Patienten würden durchgängig oder häufig zu früh entlassen, stieg von 24 % (2004) auf 26 % (2005), um dann auf 23% (2007) erneut abzusinken. Demgegenüber hat aus Sicht der Pflegekräfte sowohl die zu frühe als auch die zu späte Entlassung zugenommen, d. h. immer weniger Patienten würden zu einem für den Heilungsprozess optimalen Zeitpunkt entlassen. Es gibt Hinweise aus der REDIA-Studie, dass die Erkrankungsschwere bei orthopädischen und kardiologischen Indikationen in der Rehabilitation 2005/2006 gegenüber 2003/2004 zugenommen hat. Bei allen Wahrnehmungen und Ergebnissen gibt es wegen der nicht vorhandenen Vergleichsdaten von vor 10 oder 15 Jahren, also weit außl;erhalb der möglichen Ankündigungswirkung der DRG, erhebliche Bewertungsprobleme.

3. "DRGs führen zu einer Verschlechterung der Versorgungsqualität komplizierter, chronisch kranker Patienten"
Zu den DRG-"Versorgungsqualitäts-Verlieren" scheinen mit einer gewissen Plausibilität die Patienten mit mehreren Behandlungsanlässen (multimorbide Patienten) zu gehören: Zu dieser Gruppe gehören 5% (2002) und 4% (2005) aller befragten Patienten. Diesen Patienten geht es bei einer Fülle von Indikatoren der Versorgungsqualität (z. B. Information über Vorerkrankungen und Behandlung, Behandlung mit Aufmerksamkeit, vorbildliche Betreuung, Vertrauen in Krankenhaus und Personal) im Jahr 2005 gegenüber 2002 häufiger schlechter als Patienten mit nur einer Erkrankung. Verschlechterungen fallen 2005 bei multimorbiden Patienten auch intensiver aus als bei Befragten mit nur einer Erkrankung.

4. "DRG verstärken die Auswirkungen von Kostendruck auf die Behandlungswirklichkeit"
Der Anteil der Pflegekräfte, die für ihren Alltag der Feststellung zustimmen, die Patienten würden mit den besten Leistungen versorgt, liegt 2006 bei 63 %. Der Anteil der Pflegekräfte, in deren Alltag sich die Versorgung nicht nach den Kosten richtet, liegt im selben Jahr bei 55 %. Im Jahr 2003 gaben 87 % und 96 % die Versorgung mit den besten Leistungen und eine Versorgung, die sich nicht primär nach den Kosten richtet, als Soll an. Auch wenn ein direkter Vergleich unzulässig ist, gibt die Diskrepanz der Häufigkeiten wahrscheinliche Trends an.
Im Alltag der ärzte sinkt der Anteil derjenigen, welche die besten Mittel einsetzen von 72 % (2004) über 66 % (2005) auf 62 % (2007) und bewegt sich der Anteil, deren Versorgungs-Alltag sich nicht nach den Kosten richtet, kaum, nämlich zwischen 47 %, 48 % und 46 %. Nur 34 % der Patienten hatten den Eindruck, ihre Behandlung werde gar nicht von Kostenerwägungen beeinflusst. Bedenkt man, dass Patienten nur bedingt in der Lage sind, zu überblicken, auf Basis welcher Erwägungen Versorgungsentscheidungen getroffen werden und außl;erdem die dem Rollenverhalten von Patienten geschuldete Tendenz Behandlungsfehler oder Versäumnisse zu entschuldigen (Steffen/Ommen/Pfaff 2008), ist dies ein alarmierendes Signal: Anscheinend ist das Thema Kosten in der Kommunikation mit ärzten und Pflegepersonal mittlerweile ein gängiges Thema, um Versorgungsentscheidungen / Zeitmangel zu begründen. Die "Entschuldigungstendenz" könnte auch eine Erklärung dafür liefern, warum im Längsschnitt, d. h. beim Vergleich der Ergebnisse der ersten und zweiten Patientenbefragung kein DRG-Effekt messbar ist.

5. "DRG führen zu vermehrter Rehospitalisierung und zu Fallsplitting"
Die mit den Daten der Gmünder Ersatzkasse (GEK) bis einschließl;lich 2005 durchgeführten Analysen der Rehospitalisierungsrate zeigen weder für die Gesamtheit der Behandlungsanlässe noch für die meisten erstdiagnostizierten und behandelten Krankheitsbilder dramatische Entwicklungen: Die Rate ist zwar zwischen 1990 und 2005 gestiegen (von 16 % der Patienten, die nach 30 Tagen wieder stationär aufgenommen wurden auf 18 %), ist aber schon deshalb nicht einfach auf den DRG-Einfluss zurückzuführen, weil der größl;te Teil des Anstiegs bereits zwischen 1990 und 1995 stattfand, nämlich von den besagten 16 % auf 17 % (Braun/Müller 2006: 100). Auch den Verdacht des Fallsplittings kann man nach den vorliegenden Krankenkassendaten nicht bestätigen (Braun/Müller 2006: 118). Eine Zunahme von Wiedereinweisungen mit unterschiedlichen Diagnosen ist nur im Zeitraum 1995 bis 2000 zu erkennen. Von 2000 bis 2005 ist sie sogar wieder rückläufig (Braun/Müller 2006: 102).

6. "DRG stellen bei Pflegekräften und ärzten das traditionelle berufliche Selbstverständnis in Frage"
Fast alle Pflegekräfte wollen 2006 Patienten bei der Behandlung mitentscheiden lassen, nur bei 49 % entspricht dies ihrer Praxis. 95% der Pflegekräfte stimmen 2006 der Aussage zu, zur Behandlung sollte grundsätzlich eine soziale und emotionale Zuwendung gehören; nur bei 53 % findet dies auch "ausreichend" statt. Nur etwa 16 % der ärzte, welche Rationierung von Leistungen voll ablehnen, arbeiten in Kliniken, in denen dies auch ihre Praxis prägt. Von den 80 bis 90 % der ärzte, welche die soziale und emotionale Zuwendung zu den Patienten für wichtig halten, schaffen dies praktisch immer weniger: "Eher nicht" oder "gar nicht" sagen 34 % (2004), 39 % (2005) und 36 % (2007).
Grundsätzlich findet sich auch unter DRG-Bedingungen weiterhin eine großl;e Unterstützung für einen Primat des medizinisch Notwendigen und eine umfassende Versorgung der Patienten auf dem Stand der medizinischen bzw. pflegerischen Erkenntnisse. Nicht nur die Patienten (80 %), sondern auch ärzte (78 %) und Pflegekräfte (87%) stimmen derzeit einer Nachrangigkeit wirtschaftlicher Erwägungen tendenziell zu. Im Gegensatz zu den Patienten sind es allerdings nur 31 % der ärzte und 46 % der Pflegekräfte, die dieser Aussage voll zustimmen. Unter DRG-Bedingungen zeigen sich also Normverunsicherungen, die zwei Drittel der ärzte und über die Hälfte der Pflegekräfte betreffen. In den Interviews der Fallstudien wird darüber hinaus sichtbar, dass eine zunehmende Integration gewinnwirtschaftlicher Erwägungen in das berufliche Selbstverständnis über alle Ebenen der ärztlichen und pflegerischen Hierarchie hinweg zu beobachten ist.

7. "DRG verbessern die Aufnahme ins Krankenhaus zum Vorteil der Patienten und des Krankenhauses"
Um kostendeckend zu arbeiten, ist es unter DRG-Bedingungen notwendig, schon bei der Aufnahme den Patienten diagnostisch auf das richtige Gleis zu stellen. Deshalb ist es von Vorteil, bei der Aufnahme möglichst qualifiziertes Personal einzusetzen, um zu stringenten Behandlungsplänen zu kommen. Gefragt, welche Mindestqualifikation die diensthabenden ärzte in der Notfallaufnahme haben, wird allerdings 2007 von 75 % (76 % 2005; 74 % 2004) der Befragten eingeräumt, dass keine Mindestqualifikation erforderlich ist, sodass z. B. Assistenzärzte mit weniger als einem Jahr Berufserfahrung diese Aufgaben zu erfüllen haben.
In einem fallpauschalierten System ist es für ein Krankenhaus günstig, gleich im Erstkontakt eine vollständige Patientenakte vorliegen zu haben, da dies die Diagnosestellung und Behandlungsdauer insgesamt verkürzen kann, überflüssige (teure und teilweise schädliche) Diagnostik vermeiden hilft und die Dauer belastender Ungewissheit über den Anlass des Krankenhausaufenthalts und die Prognose für die Patienten verkürzt. Bei der Befragung 2007 lag in 56 % (58 % 2005; 56 % 2004) der Fälle aus Sicht der ärzte selten bis nie eine vollständige Akte bei Erstkontakt vor. Auch wenn nahezu unverändert "nur" knapp 12 % der Patienten 2002 und 2005 den Eindruck hatten, der aufnehmende Arzt habe keine Information über ihre Vorbehandlung, existiert hier offensichtlich noch ein großl;es Verbesserungspotenzial.

8. "DRG verbessern die Entlassung aus dem Krankenhaus und die Überleitung in nachgeordnete Versorgungsformen"
Ein großl;er Verbesserungsbedarf besteht offensichtlich auch bei der Organisation der Entlassung aus dem Krankenhaus: Nur etwa 55 % der befragten Pflegekräfte bestätigten im Jahr 2003, also vor der verbindlichen Einführung der DRG, ein gut funktionierendes Entlassungsmanagement mit Hausärzten und ambulanten Diensten. Drei Jahre später hat sich die Situation nicht etwa verbessert, sondern verschlechtert (49 %). Auch die ärzte nehmen eher eine Verschlechterung der Situation seit Einführung der DRG wahr. Dies gilt besonders stark für den Bereich der Rehabilitation, wo der Anteil der Krankenhäuser mit gut funktionierendem Entlassungsmanagement von 49 % auf 44 % gesunken ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass insgesamt nur in den Häusern von 59 % (Abnahme um 3 Prozentpunkte) der befragten ärzte überhaupt mit Rehaeinrichtungen im Rahmen v on Entlassungs- und Überleitungsmanagement kooperiert wird.
Im Hinblick auf den Übergang zur stationären Pflege hat sich der Anteil der ärzte erhöht, die ein gut funktionierendes Entlassungsmanagement konstatieren. Ergänzend wird in den Fallstudien deutlich, dass die Wahrnehmung von Problemen mit dem Entlassmanagement unter DRG-Bedingungen tendenziell dort zugenommen hat, wo schnellere Entlassungen zu erhöhten Rezidivraten mit Wiedereinweisung geführt haben. Mehr als 50 % der befragten Krankenhausärzte sagten in allen Wellen, dass in ihrem Krankenhaus kein Entlassungsmanagement mit niedergelassenen Fachärzten existiere. Nur 18 % meinen, dass die Kooperation mit Hausärzten gut funktioniere. In den Fallstudien wurde deutlich, dass sich die Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen Medizinern und Krankenhausärzten häufig durch Kostendiskussionen verschlechtert hat. Unter DRG-Bedingungen können derzeit also vermutlich weniger als die Hälfte der Patienten mit einer koordinierten und auf ihre Lage zugeschnittenen Weiterbehandlung außl;erhalb des Krankenhauses rechnen.
Auch wenn über 80 % der Patienten mit dem Entlassungszeitpunkt zufrieden sind, verlief doch die Vorbereitung auf die Zeit nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nicht immer optimal. Im Vergleich der fünf Aspekte, die abgefragt wurden, sieht es bei den Erklärungen über verabreichte Arzneimittel am besten aus: Knapp zwei Drittel der Patienten wurden voll und ganz aufgeklärt. Über 10 % erhielten aber trotz ihres Bedarfs keine Erklärungen. Etwas über 60% sagten, dass die ärzte ihnen ausführlich erklärt hätten, wie sie sich nach der Entlassung verhalten und welche Warnsignale sie beachten sollten. Mit gut 50% wurde ausführlich besprochen, wann die gewohnten Alltagsaktivitäten wieder aufgenommen werden könnten und gut 40% wurden über Möglichkeiten der Hilfe zur Selbsthilfe bei der Genesung aufgeklärt. Am schlechtesten sieht es bei der Einbeziehung von Angehörigen in den Nachsorgeprozess aus. Nur bei knapp einem Viertel wurden die Angehörigen ausführlich aufgeklärt, wie sie zur Genesung beitragen können. Im Zeitverlauf, also im Vergleich der ersten (2002) und zweiten (2005) Befragungswelle, hat sich die Vorbereitung auf die Zeit nach der Entlassung nur wenig verbessert bzw. bei der Erklärung der Medikamenteneinnahme ist sogar eine leichte Verschlechterung festzustellen.
Es wundert nach dem Gesagten auch nicht, wenn aus Sicht der Patienten die Kontinuität der Behandlung zwischen dem Krankenhaus und den niedergelassenen ärzten nicht immer sichergestellt ist: Bei der ersten Patientenbefragung sagten immerhin etwa 20% der Befragten, dass der Hausarzt Therapiemaßl;nahmen des Krankenhauses nicht, nur mit Vorbehalt oder erst nach Rücksprache mit dem Krankenhaus weitergeführt hat. Bei der zweiten Befragung waren es noch etwa 16%. In der zweiten Welle der Fallstudien wurde deutlich, dass die Krankenhäuser dazu übergehen, ein professionelles Einweisermanagement zu betreiben, was z. B. auch Absprachen mit Niedergelassenen hinsichtlich der Verordnung von Medikamenten bedeutet, um die Kontinuität der medikamentösen Therapie, unter Berücksichtigung der niedrigeren Arzneimittelbudgets im ambulanten Bereich, sicher zu stellen.

9. "DRG fördern über eine Verkürzung der Liegezeiten die rechtzeitige Entlassung aus dem Krankenhaus"
Unter DRG-Bedingungen wird die Verkürzung der Liegezeiten, die allerdings schon in den 1990er Jahren einsetzte, weiter vorangetrieben und eine striktere Durchsetzung der AEP-Kriterien von Krankenkassen betrieben, wodurch stationäre Aufenthalte verringert werden sollen. Hierdurch verlagert sich der Heilungsprozess in den nachstationären Bereich, dessen Mittelausstattung und teilweise medizinische Kompetenz (z. B. Wundmanagement) im Vergleich zum akutstationären Bereich schlechter ist. Dadurch bestehen Anreize zur Unterversorgung von Patienten. Die Verkürzung der Liegezeiten wirkt sich für ältere Patienten tendenziell negativ aus, da soziale Kriterien bei der Entscheidung über den Entlassungszeitpunkt zunehmend keine Rolle mehr spielen. Parallel zu der DRG-Einführung nimmt die Bedeutung ambulanter Operationen zu, eine Entwicklung, die von vielen Patienten gewünscht, aber nicht von allen ärzten uneingeschränkt positiv bewertet wird, da Komplikationen auftreten können und die Nachsorge den niedergelassenen ärzten und unterfinanzierten Pflegediensten überlassen ist, zu denen häufig keine bzw. keine guten Kooperationsbeziehungen bestehen. Der Anstieg der Anzahl ambulanter Operationen trägt außl;erdem zur Erhöhung der durchschnittlichen Fallschwere der dann noch stationär behandelten Patienten bei, die bereits durch demographische Faktoren erhöht wird (z. B. Zunahme älterer und dementer Patienten). Wenn die dadurch zu verzeichnende qualitative Verdichtung der Krankenhausarbeit zutrifft, reicht aber z. B. der Erhalt des personellen Status quo ante nicht aus, das vor Einführung der DRG und der laufenden Vergrößl;erung des Anteils ambulanter Operationen existierende Versorgungsniveau zu halten.

10. "DRG fördern die Kooperation und den patientenbezogenen Informationsfluss zwischen den Berufsgruppen im Krankenhaus."
Anhand der uns zur Verfügung stehenden Daten wirken die DRGs auf die Kooperation in zweierlei Hinsicht: Auf der einen Seite liefern sowohl die quantitativen als auch die qualitativen Erhebungen Hinweise darauf, dass sich die Kooperationsbereitschaft zwischen den Berufsgruppen unter DRG-Bedingungen verbessert und eine Annäherung über professionelle Grenzen hinweg stattfindet. Auf der anderen Seite nimmt der Anteil der Befragten zu, die der Meinung sind, dass die DRGs einen negativen Einfluss auf die faktischen Möglichkeiten (Zeitmangel) zu fachlicher Kooperation und Information haben. Zumindest der Informationsfluss hat sich unter DRG-Bedingungen nicht verbessert, obwohl beschleunigte Abläufe vermehrte Kooperation erfordern, um beispielsweise (Behandlungs-)Fehler zu vermeiden. So ist etwa der Anteil der ärzte, die von regelmäßl;igen Besprechungen mit Pflegekräften berichten, zwischen ihrer ersten und dritten Befragung um 4 Prozentpunkte von 46% auf 42% gesunken. Der Anteil der Pflegekräfte, die Informationen über Patienten nur zufällig erhalten, ist von 15% auf 18% angestiegen. Zusammenfassend gesagt haben sich die - formellen - Kommunikationsstrukturen unter DRG-Bedingungen eher verschlechtert als verbessert. Vor allem die gemeinsame Visite von Pflegekräften und ärzten findet immer seltener statt, weil die Pflegekräfte aufgrund der Personalknappheit weniger Zeit haben und die ärzte keine festen Visitenzeiten einhalten, auf die sich die Pflegekräfte einstellen können. Durch den Wegfall der gemeinsamen Visite werden Informationsverluste und Fehler bei der Patientenversorgung wahrscheinlicher.

11. "DRG fördern die Strukturierung der Behandlungsabläufe."
Etwa 58% der ärzte sagen, dass in ihren Häusern zumindest in Ansätzen klare und koordinierte Abläufe von der Aufnahme bis zur Entlassung (Case Management/Clinical Pathways usw.) existieren. Der Anteil hat sich zwischen den Befragungswellen um 12 Prozentpunkte erhöht. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass diese Frage keinen Aufschluss über Umfang und Qualität der Behandlungsleitlinien bietet. Offen bleiben zudem, wie verbindlich diese Leitlinien für die behandelnden ärzte und Pflegekräfte sind bzw. ob Behandlungspfade auch tatsächlich handlungsleitend wirken. Je nach Position der Befragten bestehen unterschiedliche Einschätzungen hinsichtlich der Existenz von klaren und koordinierten Abläufen. Dass es die leitenden ärzte sind, die häufiger die Existenz von Case Management, Clinical Pathways und Leitlinien bejahen, bestätigt den nicht selten in Interviews geäußl;erten Verdacht, die vorhandenen Pathways spielten für Assistenzärzte in der Praxis eine weitaus geringere Rolle als auf dem Papier. Differenziert nach Fachgebieten fällt auf, dass die Versorgung in chirurgischen Abteilungen offenbar am stärksten von koordinierten Abläufen geprägt ist. Die Krankenhausgrößl;e hat dagegen keinen Einfluss. Demgegenüber besteht nach Ansicht der ärzte in freigemeinnützigen und privaten Häusern eher als in öffentlichen Häusern die Neigung, Case Management, Clinical Pathways und Leitlinien einzuführen oder zu entwickeln.
Auch nach Meinung der Pflegekräfte sind die Behandlungsabläufe unter DRG-Bedingungen stärker standardisiert worden. Strukturierte Abläufe in Form von Case Management oder Clinical Pathways werden 2006 von 50% der befragten Pflegekräfte gegenüber 43% in 2003 berichtet. Knapp über 40% der Pflegekräfte gaben außl;erdem 2006 an, in Krankenhäusern zu arbeiten, in denen die elektronische Patientenakte eingeführt war. Die meisten Merkmale der Pflegeorganisation haben sich im Vergleich der Jahre 2003 und 2006 dagegen wenig verändert. Mehr als 80% geben an, dass immer oder überwiegend nach Pflegestandards und Behandlungspfaden gepflegt wird, aber nur etwa die Hälfte der Pflegenden sagt, dass es für jeden Patienten eine Pflegeplanung gibt. Abteilungen für Kurzzeit-Patienten existieren nach Meinung von 43% (+4 Prozentpunkte) der ärzte. Abteilungen für poststationäre Versorgung sind in den Einrichtungen von 40 % (+6) der befragten ärzte vorhanden. Dieses Wachstum im Wellenvergleich kann man als DRG-Effekt bezeichnen, denn in der zweiten Welle der Fallstudien wurde uns erläutert, dass im Rahmen von Mischkalkulationen zunehmend ambulante Behandlungen durchgeführt werden, um Einnahmen außl;erhalb des DRG-Systems zu generieren.

12. "DRG verschlechtern die sozialen und materiellen Arbeitsbedingungen aller Beschäftigten im Krankenhaus."
Durch die aus ihrer Sicht höheren Anforderungen (Mischstationen) und den erhöhten Zeitdruck fühlen sich die Pflegekräfte in gestiegenem Ausmaßl; nicht mehr gut genug für ihre Arbeit ausgebildet. Waren 2003 noch fast 80 % der Meinung, sie seien gut ausgebildet, sagen dies 2006 nur noch gut 60 %. Neben dem Zeitdruck werden auch vermehrt Unterbrechungen, administrative Tätigkeiten und die Angst um den Arbeitsplatz als Belastungen wahrgenommen. Die Zahl derer, die Angst um ihren Arbeitsplatz haben, weil sie sich den Anforderungen nicht mehr gewachsen fühlen, steigt von knapp 2 % auf gut 8 %. Die Pflege war in den letzten Jahren von Stellenabbau betroffen, der zu einer Verringerung der "Hände" pro Schicht und Station geführt hat, während gleichzeitig die durchschnittliche Stationsgrößl;e zugenommen hat. Für ärzte steht z. B. durch die Beschleunigung der Abläufe noch mehr als bisher die Ganzheitlichkeit der Behandlung in Frage: Nur 14% (+/-0) der Befragten sind der Meinung, dass sie ihren Patienten genügend soziale und emotionale Zuwendung zukommen lassen. 47 % (-5) sind zumindest eingeschränkt der Ansicht, dies zu schaffen. Für 35 % (+4) ist dies grundsätzlich eher nicht der Fall und für 4 % (+1) gar nicht. Auch Pflegende sagen, sie würden den Patienten zu wenig (32 %) oder gar keine (4 %) soziale und emotionale Unterstützung zuteilwerden lassen.
Diejenigen ärzte, die als eine ihrer ausgeprägten negativen Arbeitsbedingungen angaben, ihr tägliches Arbeitspensum nicht oder nicht den Anforderungen entsprechend zu schaffen (74 % der Befragten, +8), konnten eine Reihe möglicher Ursachen ankreuzen. 46 % (+2) dieser ärztegruppe betrachten "starke Konflikte zwischen Versorgungsqualität und Kostendruck" und 44 % (+9) "starke Konflikte zwischen Berufsethos und Kostendruck" als ursächlich für ihre Überforderungssituation. Den zum Teil als zunehmend empfundenen, jedenfalls aber nicht geringer werdenden Arbeitsbelastungen stehen Ressourcen (z. B. interessante Tätigkeit) gegenüber, welche die erwartbaren negativen Auswirkungen der DRG für die Arbeitszufriedenheit erheblich reduzieren oder gar vermeiden helfen. Für ärzte haben diese Ressourcen gar nicht abgenommen, während für Pflegekräfte in den meisten Bereichen ein leichter Rückgang zu verzeichnen ist.

13. DRG erhöhen den Umfang administrativer Arbeit zu Lasten patientennaher Tätigkeiten
Für diese oft von ärzten und Pflegekräften beklagten Tendenzen gibt es weniger und schwachere empirische Belege als erwartet. Das Verhältnis beider Tätigkeitsarten scheint relativ stabil zu sein und unterscheidet sich auch nicht in Subgruppen der beiden Beschäftigtengruppen. So ist beispielsweise der Anteil medizinischer Tätigkeit auch bei ärzten in Privatkrankenhäusern wider Erwarten nicht höher als der bei ihren KollegInnen in kommunalen oder anderen öffentlichen Kliniken. Diese Ergebnisse der schriftlichen Befragung stehen in krassem Gegensatz zu den Einschätzungen der qualitativen Interviews, in denen sowohl von ärzten als auch Pflegekräften betont wird, dass administrative Tätigkeiten zugenommen, sich die Arbeit verdichtet und zunehmend zu wenig Zeit für Patienten vorhanden sei.

14. "DRG beeinträchtigen die Beziehungen zwischen Patienten und Beschäftigten im Krankenhaus"
"Da die Patienten (...) zugleich Arbeitsgegenstand und Mitproduzenten sind und als solche Bestandteil der Arbeitsprozesse, sind keine relevanten Veränderungen der Arbeit denkbar, von denen die Patienten nicht (zu ihrem Vor- oder Nachteil) betroffen wären und keine relevanten Veränderungen der Patientenstruktur, die sich nicht auf die Arbeit auswirken würde" (Braun/Kühn 2003: 13). Analysen dieser Wechselwirkungen sind im methodischen Design von WAMP nur mit allen Einschränkungen der Aussagefähigkeit von Aggregatanalysen (Gefahr "ökologischer Fehlschlüsse") möglich, da z. B. nicht die Patienten der befragten Pflegekräfte oder ärzte bzw. die mit der Behandlung der befragten Patienten betrauten Beschäftigten befragt wurden. Trotzdem gibt es Hinweise auf solche interaktive Prozesse und ihre Bedeutung: Zu den wahrscheinlich nicht erst unter DRG-Bedingungen für Patienten und deren Empfehlung des Krankenhauses an Dritte relevanten Merkmalen der Krankenhaus-Beschäftigten gehört z. B. der Eindruck, ärzte und Pflegekräfte könnten gut miteinander kooperieren oder die Existenz eines festen ärztlichen Ansprechpartners (siehe ausführlich Braun/Müller 2003). Umgekehrt fällt auf, dass ein relativ geringer aber zunehmender Teil der Pflegekräfte und ärzte Patienten und ihre Angehörigen als Belastungen oder "Störfaktoren" wahrnehmen. Wie eine Studie zur Kommunikation professioneller Helfer über die tatsächlich oder angebliche Zunahme des Anspruchsverhaltens von Patienten zu belegen versucht (Dieterich 2006), spielt die damit verbundene Herstellung von Distanz eine wichtige Rolle bei der Entlastung z. B. der ärzte vom "schlechten Gewissen" über Rationierungsentscheidungen: "Die Umdeutung von (leidenden) Patientinnen und Patienten zu (anspruchsvollen) Kundinnen und Kunden erleichtert die Auflösung einer als belastend erlebten "moralischen Dissonanz" zwischen Patientenerwartungen, eigenen ethischen Wertvorstellungen und erlebten Sachzwängen wie Ressourcenknappheit. Gleichzeitig bergen diese Verschiebungen auch Konsequenzen für Patientinnen und Patienten, indem Versorgungsansprüche nur noch eingeschränkt als legitim wahrgenommen werden." (Dieterich 2006: 49)


Methodische Herausforderungen, Beschränkungen und Vorteile

Eine Politikfolgenforschung, die mit sozialwissenschaftlichen Methoden der Längsschnittanalyse Wirkungen der DRG auf das und im Innenleben des sozialen Systems Krankenhaus, also bei Patienten, Pflegekräften und ärzten ermitteln will, ist möglich, richtig und ertragreich. Eine solche Methodik ist daher auch für andere vergleichbar intensive Interventionen zu empfehlen. Dabei treten aber auch einige methodische Schwierigkeiten auf, die Auswirkungen auf die Möglichkeiten haben, bestimmte Veränderungen überhaupt oder verlässlich und vollständig messen zu können:
Dazu zählt das Problem von Ankündigungseffekten im Vorfeld von Gesetzesänderungen und generell die Lückenhaftigkeit der Kenntnisse über DRG-relevante Bedingungen der stationären Versorgung im langjährigen Vorfeld der DRG-Einführung. Beide Probleme erschweren die Möglichkeit von Begleitforschung. Inhaltlich bedeutend sind außl;erdem die Schwierigkeiten, unter dem Einfluss der sich verändernden Krankenhauswirklichkeit und der sich ändernden Wahrnehmungsstandpunkte der Befragten zeitstabil vergleichbare Aussagen über Sachverhalte zu erheben. Die scheinbar paradoxen Widersprüche oder das Nichtzueinanderpassen der allgemeinen Bewertung eines zunehmenden Arbeitszeitanteils für administrative Tätigkeiten und der geringen Veränderung der quantitativen Darstellung dieses Anteils insbesondere bei den Pflegekräften sind vermutlich ein Ausdruck dieser Wahrnehmungsverschiebungen unter Veränderungsdruck.
Eine besondere Herausforderung stellen auch die Schwierigkeiten dar, von Patienten vergleichbare Angaben über die Qualität ihrer Versorgung zu erhalten. Sieht man einmal von der generellen Schwierigkeit ab, von meist älteren und geschwächten Personen zu Details ihrer Behandlung valide Aussagen erheben zu können, erscheinen deren memorierte Wahrnehmungen spezifisch gefiltert: Dies betrifft etwa die aus Patientensicht sogar gesundheitlich positive poststationäre Vergesslichkeit gegenüber negativen Behandlungserfahrungen oder die stillschweigende Absenkung des Erwartungs- oder Anspruchsniveaus an die Behandlung. Beides führt zu einer insgesamt positiveren aber nicht der Wirklichkeit entsprechenden Bewertung der Versorgungsqualität. Umgekehrt gibt es aber auch empirische Hinweise, dass bestimmte Patienten ex post eine Behandlungssituation schlechter bewerten als dies unabhängige teilnehmende Beobachter wahrnehmen. Generell hat man es bei subjekt- oder akteurbasierter Forschung aber auch noch mit dem allgemeinen Problem zu tun, dass die befragten Beschäftigten und teilweise auch die Patienten nicht allein "Objekt", "Opfer" oder "Betroffene" politischer oder administrativer Intervention, sondern auch "Mitproduzenten" einer Versorgungsrealität sind, deren Veränderung man nun von ihnen als "Subjekt" erfahren will. Man muss wegen der dadurch induzierten und belastenden Rollenambiguität davon ausgehen, dass ein Teil der zu messenden Veränderung durch Wahrnehmungsverschiebungen nivelliert wird, sei es um den belastenden Dissonanzen von ethischem und professionellem Soll und Ist auszuweichen, sie erträglich zu machen oder den "Eigenanteil" gegenüber sich und anderen zu rechtfertigen. Umso bedeutsamer erscheint es dann aber, wenn im Längsschnitt trotzdem beispielsweise eine Zunahme von Dissonanzen messbar ist.
Schließl;lich führt die methodische Anlage des Projekts auch zu einer Reihe inhaltlicher Erkenntnisse über die Performanz strukturverändernder Gesundheitspolitik oder der Möglichkeit von Strukturveränderungen in komplexen sozialen Systemen und der Vielfalt dabei zu berücksichtigender Faktoren. Besonders kommt dies dort zum Ausdruck, wo sich bisher entgegen der theoretischen Annahmen und politischen Erwartungen über die Wirkrichtung und -stärke der DRG weniger, andere oder gar keine Wirkungen zeigen. Dies gilt sowohl für die befürchteten Selektionseffekte oder die erwartete wesentlich stärkere Strukturierung der Versorgungsabläufe von der Aufnahme bis zur Entlassung. Welche hemmenden und fördernden Bedingungen empirisch dafür verantwortlich sind, dass trotz plausibler ökonomischer Anreiz- und Interessenstruktur weniger selektiert wird als erwartet und weniger für eine zielgerichtete und zügige Behandlung von Patienten getan wird als dem Patienten und dem Krankenhaus "eigentlich" gut täte, kann hier nur vermutet werden, da sie nicht systematisch erhoben worden sind. Einige Bedingungen, von denen derartige moderierende Funktionen erwartet wurden, wie etwa der Trägerstatus oder die Größl;e der Krankenhäuser, hatten meistens keinen oder einen lediglich geringen nachweisbaren Einfluss.
In künftigen Studien sollte daher der Einfluss einer Reihe weiterer möglicher Einflussfaktoren für die wider Erwarten zögerlichere aber auch beschleunigtere Umsetzung von politischen Veränderungsabsichten hypothetisch berücksichtigt und überprüft werden. Dazu gehören so heterogene Faktoren wie die Führungsqualität in den Kliniken, eine noch genauere Erhebung der Kooperationsverhältnisse im Krankenhaus und die öffentliche Kommunikation über "die Situation des Krankenhauses", die zum Teil pessimistischer ist als die wirkliche Lage. Dass solche Variablen in unserer Studie fehlen, kann ein Grund für die vergleichsweise geringe Erklärungskraft unserer multivariaten Regressionsmodelle sein. Für die damit eindeutig notwendige weitere Forschung u. a. mit anderen Methoden werden soweit möglich Hinweise auf Merkmale gegeben, die dann einzubeziehen wären.